Quelle: gmuender-tagespost.de - 24. 05. 2019 13:54
Neben der Pracht der Städte Prag, Wien und Budapest rückt Bratislava oft in den Hintergrund. Dabei hat die slowakische Hauptstadt viel mehr zu bieten.

Foto: Hana Fábry
Im Bademantel öffnet Albert Vlk die Tür. Seine Augen sind gerötet, die dunklen Haare zerzaust. Der 42-jährige Filmemacher hat eine lange Nacht hinter sich. "Welcome to the Flatgallery", sagt er mit rauer Stimme, willkommen in meiner Wohnzimmer-Galerie. Die Holzdielen knarzen, als er vom Flur ins Wohnzimmer wechselt. Auf dem grauen Sofa liegt eine Frau und schläft. "Das ist meine Mutter", sagt Vlk. Er schaltet den Fernseher aus und zeigt auf das Bild darüber.
Seit 2012 betreibt Vlk zusammen mit seinem Partner, dem Kunsthistoriker Andrej Jaro, die Flatgallery in seiner Altbauwohnung im Zentrum Bratislavas. Die Ausstellungsreihe will jungen Künstlern ermöglichen, ihre Werke zu zeigen – abseits der großen, kommerziellen Galerien. Die aktuellen Exponate stammen von Eduard Klena. Der slowakische Künstler zeichnet Fantasiewelten mit schwarzer Tusche, Mikrokosmen mit kleinen Strommasten, Hirschen und Raketen. Mit roter Acrylfarbe setzt er Akzente. Alle zwei Monate tauschen Vlk und Jaro die Bilder in ihrem Wohnzimmer aus und machen eine Vernissage, zu der sie Freunde, Bekannte und die Bekannten ihrer Bekannten einladen. Die Flatgallery soll auch ein sozialer Treffpunkt sein, ein Ort der Begegnungen.
Ein-Zimmer-Ausstellung
Deshalb steht sie nicht nur dem näheren Umfeld von Vlk und Jaro offen, sondern auch Touristen. Wer die Bilder anschauen möchte, klingelt einfach an der Haustür. "An manchen Sommertagen kommen 20, 30 Leute", sagt Vlk. Er führt Besucher gern durch sein Wohnzimmer, zeigt ihnen die aktuelle Ausstellung – und die Küche. "Bei jeder Vernissage landen irgendwann alle hier", sagt er, lacht, und deutet auf eine Vitrine voller Gläser.
Kleine Galerien wie die von Albert Vlk und Andrej Jaro gibt es viele in Bratislava: ein-Zimmer-große Ausstellungsräume, auf die man fast zwangsläufig trifft, wenn man durch die Altstadt und ihre hübschen Nebengassen schlendert. Nur hängen die Leinwände dort nicht über Flachbildschirmen und Designermöbeln, sondern ordentlich aufgereiht an weiß getünchten Wänden.
Kunst zum Jubiläum
Kunst hat einen großen Stellenwert in der slowakischen Hauptstadt, obwohl dort nicht einmal eine halbe Million Menschen leben. Vielleicht auch deshalb feiern die Slowakei und Österreich das 25-jährige Bestehen ihrer bilateralen Beziehungen nicht mit einer großen Sause, Musik und Feuerwerk, sondern mit einem Kunstprojekt. 2018 markierte für die Slowakei in vielerlei Hinsicht ein Jubiläumsjahr: 100 Jahre ist es her, dass sie nach dem Ersten Weltkrieg Teil der neu gegründeten Tschechoslowakei wurde, 25 Jahre liegt die Ausrufung der unabhängigen Slowakischen Republik zurück. Zugleich erlebt das kleine Land zwischen Österreich, Tschechien, Polen, Ungarn und der Ukraine aktuell einschneidende politische Umwälzungen.
Die Slowaken geben lieber ein bisschen mehr Geld für Kaffee aus, wenn sie dafür länger sitzenbleiben können.
Eva Sebikova Cafe-Besitzerin
Bratislava als Zwischenstopp
Von politischen Auseinandersetzungen und Querelen bekommen Besucher im beschaulichen Bratislava allerdings kaum etwas mit. Für viele Touristen ist die Stadt ohnehin nur ein Zwischenstopp auf der Donau-Kreuzfahrt zwischen den Prachtstädten Wien, Prag und Budapest. Tatsächlich ist die Altstadt schnell entdeckt. Ein Spaziergang von der hellblauen Sankt-Elisabeth-Kirche zum alten Rathaus, dem Martinsdom und dem Michaelertor dauert nicht einmal zwei Stunden. Wer noch den Burghügel, die umliegenden Weinberge und das Ufo – eine Aussichtsplattform auf der Brücke des Slowakischen Nationalaufstandes – anschauen möchte, braucht etwas länger. Doch im Prinzip reichen wenige Stunden, um sich einen groben Überblick zu verschaffen und die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu erkunden.
Wer allerdings die Essenz der Stadt erfassen möchte, muss mehr als nur einen Tag dort verbringen. Er muss die Altstadt verlassen, sich auf der gegenüberliegenden Donauseite zwischen Wohnhäusern und Parkanlagen treiben lassen. Oder mit der kleinen Tram in die entgegengesetzte Richtung fahren, in das Viertel Nové Mesto. Neben dem Einkaufszentrum Polus City treffen sich abends die Einheimischen am Kuchajda-See, einem Naherholungsgebiet mit Sportplätzen und Kiosken, wo Angler ihre Ruten auswerfen, Kinder Enten füttern und Jogger ihre Runden drehen. Außerhalb des Zentrums trifft man selten auf Touristen.
Keine To-go-Mentalität
Doch man kann es den Einheimischen gleichtun und mit einer Eistüte auf eine Parkbank vor dem alten Nationaltheater sitzen. Oder man bestellt sich einen Kaffee in einem der hippen Cafés, die seit einigen Jahren Bratislavas Straßenbild mitprägen, beobachtet Passanten und nutzt das kostenlose WLAN. "In der Slowakei gibt es keine To-go-Mentalität. Die Slowaken geben lieber ein bisschen mehr Geld für Kaffee aus, wenn sie dafür länger sitzenbleiben können", sagt Eva Sebikova, Geschäftsführerin des Urban House in der Laurinská-Straße. Das Café war eines der Ersten, das sich mit veganen Gerichten, Craft Beer und nackten Glühbirnen von den traditionellen Kaffeehäusern abhob.
An den Tischen sitzen Geschäftsleute und Studenten mit aufgeklappten Notebooks. Elektronische Musik wummert sachte aus den Lautsprechern, die Kellner tragen Schwarz und Vollbart. Das Urban House ist ein Ort, an dem man leicht die Zeit vergisst. Er trägt aber auch dazu bei, dass Bratislavas spezifische Mischung aus Jugendstil und K&K-Charme in den Hintergrund rückt, dass die winzige Innenstadt immer mehr denen von Metropolen wie Berlin, Warschau oder London ähnelt. "Als wir das Café vor vier Jahren eröffnet haben, war Bratislava noch eine alte, kommunistische Stadt", sagt die 27-jährige Sebikova. Heute erinnert in den letzten Altstadtgassen nur wenig noch an die sozialistische Vergangenheit. Wer diese Seite des alten Pressburgs erleben möchte, muss die Donau überqueren: Das Viertel Pertralka ist das einst größte Plattenbauprojekt des Ostblocks. Auch das staatliche Rundfunkgebäude, das wie eine umgedrehte Pyramide aussieht, und das Kriegerdenkmal Slavín, von dem aus man einen schönen Blick auf Burg und Donau hat, sind Überbleibsel des Sozialismus. An diese Periode denken die Slowaken aber nur ungern. "Während des Kommunismus gab es eine strenge Zensur. Viele Künstler konnten ihre Arbeiten nicht zeigen", sagt Albert Vlk. Seine Wohnzimmer-Galerie spielt virtuos mit diesem schweren Erbe.