Neue Zürcher Zeitung - 31. Dezember 2015
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Ilma Rakusa wird siebzig Jahre alt. Von Terézia Mora
Aus dem «Unterwegskind» wurde eine Grenzgängerin der Kulturen: die Übersetzerin und Autorin Ilma Rakusa.
ISOLDE OHLBAUM |
Es war in Nagoya, in Zentraljapan, dass ich Ilma Rakusa endgültig ins Herz schloss. Ich hätte fast geschrieben: mich in sie verliebte, aber das geschah erst später, als ich schon eine literarische Figur aus ihr gemacht hatte. Als solche nenne ich sie Ima, was auf Japanisch «das Geschenk» heissen kann, während Ilma im Arabischen wohl «die Weisheit» bedeutet, und auch das würde passen. Aber es ist wohl sinnvoller, davon auszugehen, dass die echte Ilma Rakusa nach einer Figur aus der ungarischen Literatur benannt worden ist: nach der Hofdame einer Fee namens Tünde, die sich in einen irdischen Prinzen namens Csongor verliebt. Ilma hat dabei die wichtige Rolle der Vermittlerin zwischen diesen beiden Prinzipien: dem Himmlischen und dem Irdischen, und ist somit der denkbar passendste Name für eine zukünftige Dichterin.
Geboren wurde Ilma Rakusa am 2. Januar 1946 in Rimavska Sobota in der heutigen Slowakei, als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter. Als «Unterwegskind», wie sie sich nannte, lebte sie in den ersten sechs Jahren ihres Lebens in Budapest, Ljubljana und Triest, bevor sich die Eltern mit ihr in der Schweiz niederliessen. Nicht, wie man denken könnte, das Provisorische, das Unterwegssein war für das Kind die grössere Prüfung, sondern dieses Sichniederlassen. «Der Norden stellte mich auf mich selbst. Schlagartig begriff ich, was Vereinzelung ist. Und Kälte», schreibt sie in ihrem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten Prosawerk «Mehr Meer» (2009).
Letzten Endes erwies sich die Schweiz wohl doch als überzeugender Ort zum Leben, obwohl ich vermute, das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass sie gleichzeitig etwas anderes fand, in dem sie bleiben konnte. Ilma Rakusa publiziert seit vier Jahrzehnten als Belletristin, aber Zeit und Raum durch Poesie bewältigt sie vermutlich schon seit frühester Kindheit. Wegen der vielen Umzüge hatte sie als kleines Kind keine Spielzeuge, nur einen Fellhandschuh, mit dem sie sommers wie winters gerne spielte. Während der erzwungenen Mittagsruhe unterhielt sie sich mit ihm.
Ilma Rakusa hat ihr Leben mit dem Schreiben vereint, seitdem gibt es eigentlich keinen Augenblick, in dem sie nicht schriebe, so kommt sie durch alle Räume und Zeiten. Sie reist sehr viel, obwohl Reisen schmerzhaft ist, körperlich und seelisch, aber jemand, der wie Ilma um der Erkenntnis willen unterwegs ist, nimmt das in Kauf, als den Preis, den man zahlen muss. Man kann nicht alles an einem Ort finden, und der Mensch ist, wenn er erwachsen ist, sowieso und überall auf sich selbst gestellt. Dort setzt er - in diesem Fall: sie sich hin und schreibt jeden Tag ihr Reisetagebuch und dazu das, was sie eigentlich schreibt: Gedichte, Prosaminiaturen, Erzählungen, Essays, einen Roman, Rezensionen und Vorträge. Bereitet Unterricht und Moderationen vor, übersetzt. Marguerite Duras, Danilo Kis, Marina Zwetajewa, Imre Kertész - um pro Sprache nur jeweils einen Namen zu nennen.
Ich reise auch fast ausschliesslich um der Erkenntnis willen, aber Japan habe ich mir immer schon als grossartig vorgestellt, aus dem naiven Grund, weil ich japanische Literatur und verwandte Arten mag, Lyrik wie Prosa wie Animes. Aber dann, natürlich, kam ich im wirklichen Japan an und war verloren. Die Möglichkeit zu scheitern, im zwei mal drei Meter kleinen Hotelzimmer zu bleiben und darauf zu warten, dass die Zeit für den Rückflug kommt, war durchaus real. Das mir stets holde Glück wollte es aber, dass Ilma Rakusa zur gleichen Zeit in Nagoya war. Sie reservierte die letzte Portion Tofu in der Mensa und ging mit mir so lange durch die Strassen und zeigte mir versteckte Schreine, bis ich in der Lage war, alleine zu laufen, zu essen, zu denken (weil ich nicht «beten» sagen will) und schliesslich sogar zu schreiben.
Dasselbe passiert jedem, der ihr begegnet, ihr zuhört oder etwas liest, was sie geschrieben hat. Einen Text, einen Raum mit Ilma Rakusa zu teilen, garantiert einem Schönheit und, was noch viel wichtiger ist, eine Verbindung zwischen Teilen, die sonst auseinanderfallen würden, und das, obwohl bzw. weil ihr Schreiben mit der Auslassung und der Verknappung arbeitet. Sie nimmt dich bei der Hand und führt dich hindurch.
Auf dem Rückweg aus Japan wurden wir voneinander getrennt, und prompt machte ich wieder einen Fehler. Ich gab mein ganzes restliches Geld für ein Businessclass-Upgrade aus, wo meine Mitreisenden, allesamt Geschäftsleute, die Fensterblenden schlossen, so dass ich nichts sah vom Tag, in den wir hineinflogen. Während Ilma, wie sie mir später erzählte, im Economy-Bereich am Fenster sass und sich Sibirien aus der Luft ansah. Ilma, die über Sibirien schwebt - ein Bild, das ich auch nicht mehr vergessen werde. Wenn sonst keine Poesie da ist, wird sie durch Ilma erschaffen. Das Himmlische kommt zum Irdischen und umgekehrt. Ein Geschenk. Ilma Rakusa, die am 2. Januar 2016 siebzig Jahre alt wird, hat dieses Gedicht geschrieben:
Neun Zeilen die Länge eines
Notats Windstoss ein halber
Gedanke Bild in der Kelle des
Anfangs Bange und Stossgebet
alles
und der Wunsch nach dem Ganzen
Wort wie Hand wie Wärme wie Tango
wie Land auch Landschaft und Heimat
und Meer das sehr fehlt.
Isten éltessen, drága Ilma! Vse najboljse draga Ilma!
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Die Schriftstellerin und Übersetzerin Terézia Mora lebt in Berlin. 2015 erschienen ihre Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel «Nicht sterben» im Luchterhand-Verlag.