Spiegel Online / Autor: Keno Verseck / Sonntag, 19.05.2018, 12:06 Uhr
Sie machte ihren Ärger über korrupte Politiker auf Facebook publik, organisierte eine Demo - und war überrascht, als Tausende kamen. Wie Karolína Farská, Schülerin aus der slowakischen Provinz, zur Protestanführerin wurde.
Karolína Farská
Als Karolína Farská am 14. Februar letzten Jahres von der Schule nach Hause kommt, öffnet sie ihren Laptop, um sich im Internet die Live-Übertragung einer Debatte im slowakischen Parlament anzuschauen. Die Opposition hat einen Misstrauensantrag gegen Regierungschef Robert Fico gestellt, es geht um Korruption im Energiesektor.
Erfolgsaussichten hat der Antrag nicht, dennoch kanzelt die Regierungsmehrheit das Begehren der Opposition besonders arrogant ab: Wegen einer angeblichen Verletzung der parlamentarischen Geschäftsordnung wird das Misstrauensvotum sofort zu Beginn der Debatte vertagt.
Die Medien berichteten darüber als Routineangelegenheit. Robert Fico selbst macht bei der Parlamentssitzung einen gelangweilten Eindruck. Er ahnt nicht, dass die Sache zu einem Einschnitt im politischen Leben der Slowakei führen wird: Weil eine politisch interessierte junge Frau in einem verschlafenen Provinzort empört ist - darüber, wie ungeniert gewählte Politiker Korruptionsaffären vom Tisch wischen. Und weil diese junge Frau ihre Empörung nicht einfach hinunterschluckt.
"Eine Parlamentsdebatte, die unter einem Vorwand beendet wird, ist vielleicht nur eine Kleinigkeit", sagt Karolína Farská rückblickend. "Denn in diesem Land passieren ja seit Jahren die unglaublichsten Korruptionsskandale. Bei mir war diese Episode trotzdem der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. So fing alles an."
Die grösste zivile Bewegung seit Ende der Diktatur 1989
Nach der Live-Übertragung rief die damals 18-Jährige ihren Schulfreund Dávid Straka an. Sie schlug ihm vor, irgendetwas Öffentliches zu tun, vielleicht eine Protestaktion zu starten. Die beiden schrieben einen Facebook-Post gegen Korruption in der Slowakei. Als binnen kurzer Zeit Hunderte Rückmeldungen kamen, entstand die Idee zu einer Demonstration gegen Korruption in der Hauptstadt Bratislava.
Eine konkrete Forderung lautete: Ein unabhängiges Komitee solle die eklatantesten Korruptionsfälle von Politikern untersuchen und aufklären. Farská und Straka rechneten anfangs mit einigen Hundert Teilnehmern. Es kamen Tausende. Das war am 18. April letzten Jahres.
Später, im Juni und September, organisierten sie weitere Grossdemonstrationen im Land. Und nach dem Mord an dem Investigativjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martína Kusnírova Ende Februar wurde Karolína Farská, inzwischen 19, eine der Mitorganisatorinnen der zivilen Bewegung "Für eine anständige Slowakei". Die mobilisiert fast jede Woche Zehntausende Menschen im Land zu Kundgebungen. Es ist die grösste zivile Bewegung seit dem Ende der Diktatur 1989.
Die slowakischen Machthaber versuchten zunächst, die Proteste auszusitzen. Doch der Druck der Öffentlichkeit wurde zu gross. Regierungschef Robert Fico und sein Innenminister Robert Kalinák, der Betrugs- und Korruptionsaffären slowakischer Oligarchen gedeckt hatte und mit einem sogar gemeinsam geschäftlich tätig war, sind inzwischen zurücktreten.
"Das ist ein Signal, dass man in diesem Land etwas verändern kann", sagt Farská, "aber es ist erst der Anfang einer grossen Veränderung, die wir erreichen möchten." Die Gymnasiastin sitzt zusammen mit einigen Mitstreitern in einer Hotelhalle in Bratislava, gerade haben sich dort Nichtregierungsorganisationen zu einer Konferenz getroffen. Unter den Organisatoren der Initiative "Für eine anständige Slowakei" ist keiner älter als 30. Doch Farská sticht heraus, nicht nur weil sie die Jüngste und noch Schülerin ist, sondern auch, weil sie schon vor einem Jahr Massen mobilisierte.
Farská (rechts) mit ihren Mitstreitern
Foto
Keno Verseck
Sie ist klein, zierlich, dezent geschminkt, hat ihr rotblondes Haar adrett gekämmt und wirkt eher ein wenig schüchtern als rebellisch. Sie kommt aus dem 25.000-Einwohner-Ort Dubnica nad Váhom, 150 Kilometer nördlich der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Ihr Vater leitet eine Firma für Sicherheitstechnik, ihre Mutter arbeitet als Kindergärtnerin. Sie selbst bereitet sich gerade auf die Abiturprüfungen vor.
Gesichter einer besseren Zukunft
Ihre Eltern, erzählt sie, hätten die slowakische Politik immer für eine schmutzige, korrupte Sache gehalten, an der gewöhnliche Leute nichts ändern könnten und von der man sich lieber fernhalten sollte. Sie jedoch habe sich schon seit Längerem für das politische Geschehen in der Slowakei interessiert.
Wie sich das Land nach dem Mordfall ändern wird, wagt noch kaum jemand vorherzusagen. Doch Farská und die anderen Inititiatoren der Gruppe "Für eine anständige Slowakei" sind so etwas wie die Gesichter eines besseren Landes und einer besseren Zukunft geworden. Sie werden von den slowakischen Medien oft interviewt, der Staatspräsident hat sie empfangen und das Logo der Gruppe auf seine Facebook-Seite quer über sein Foto gestellt.
Wie Karolína Farská kommen die meisten aus kleinen Provinzorten und bescheidenen Verhältnissen. Zum Beispiel der Rechtsanwalt Juraj Seliga, 27, der im Sommer letzten Jahres eine Initiative gründete, die gegen gesetzliche Einschränkungen für die slowakische Gauck-Behörde, das "Institut des nationalen Gedächtnisses", protestierte. Oder die Sozialpsychologin Tána Sedláková, 29, und die Psychologin Katarína Nagy Pázmány, 27, die beide in Nichtregierungsorganisationen im Sozial- und Bildungsbereich arbeiten.
Erst mal das Abitur machen
Übereinstimmend betonen sie, dass die Initiative "Für eine anständige Slowakei" keine Partei sein und keine bestimmte politische Ideologie vertreten wolle, sondern ausschliesslich ethisch-moralische Ziele habe. "Wir möchten die Politik überwachen und erreichen, dass in diesem Land transparente und rechtsstaatliche Verhältnisse herrschen", sagt Juraj Seliga. "Zugleich möchten wir aber den Menschen in der Slowakei vermitteln, wie wichtig es ist, dass sie ihre Stimme erheben und auch am politischen Leben teilnehmen."
Karolína Farská hält es nicht für ausgeschlossen, dass sie später selbst in die Politik geht. Erst einmal aber, sagt sie, wolle sie ihr Abitur machen und studieren. Vor einem Jahr war ihr grosser Traum, Quantenphysikerin zu werden, Karriere im Ausland zu machen und am Genfer Kernforschungsinstitut CERN zu arbeiten. Doch ihre Antikorruptionsinitiativen, sagt sie, hätten auch sie selbst verändert. Sie will sich an der Universität in Bratislava für das Fach "Europäische Studien" einschreiben. Und sie will in der Slowakei bleiben und das Land lebenswerter für junge Menschen gestalten.
Was sagen eigentlich ihre Eltern zu ihren zivilen Aktionen und ihren öffentlichen Auftritten? "Sie waren erst entsetzt und meinten, ich solle nicht versuchen, Dinge zu ändern, die man nicht ändern könne", erzählt Karolína Farská. Inzwischen sei vor allem ihr Vater stolz auf sie, und das freue sie. "Er ist sehr aktiv auf Facebook. Über uns erscheinen ja auch viele hässliche Kommentare, zum Beispiel, dass wir ausländische Agenten sind und unsere Heimat verraten. Immer wenn mein Vater so etwas liest, legt er sich gleich mit den Leuten an."