Europas Autowerkstatt kriselt
faz.net - NIKLAS ZIMMERMANN
AUTOINDUSTRIE IN DER SLOWAKEI
Ob VW, Kia, PSA oder Jaguar Land Rover: Mittlerweile haben alle Autohersteller in ihren Werken in der Slowakei die Produktion wiederaufgenommen. Der ostmitteleuropäische Staat glänzte in der Corona-Krise ohnehin mit vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen. Früh hat die Regierung in Bratislava die Grenzen geschlossen und die rund fünfeinhalb Millionen Slowaken schon Mitte März zum Tragen eines Mundschutzes verpflichtet.
Als Musterschüler gilt die Slowakei auch in Sachen Wirtschaftswachstum. Seit 1998 der autoritäre Ministerpräsident Vladimír Mečiar abtreten musste, hat sich das Bruttoinlandprodukt (BIP) beinahe verfünffacht. Der Wohlstand ist in diesem Zeitraum stärker gewachsen als in den Nachbarstaaten Polen, Ungarn und Tschechische Republik. Der Aufschwung geht auf die liberale Wirtschaftspolitik des von 1998 bis 2006 amtierenden Ministerpräsidenten Mikuláš Dzurinda zurück, der die Automobilindustrie einst als "Motor der slowakischen Wirtschaft" bezeichnete und sie mit Mitteln wie einer Flat Tax ins Land lockte. Um die Gunst der Autobauer warb ebenso sein sozialdemokratischer Nachfolger Robert Fico, trotz seiner mitunter linkspopulistischen Rhetorik.
Starker Einbruch des BIP erwartet
Nun ziehen über der Tatra aber dunkle Wolken auf. Der kurzzeitige Produktionsstopp und die von März bis April um eineinhalb Prozentpunkte auf 6,57 Prozent gestiegene Arbeitslosenquote könnten die Vorboten eines größeren Gewitters sein. "Wir sind total abhängig von der globalen Nachfrage", sagt Radovan Ďurana vom Institut für Wirtschafts- und Sozialstudien in Bratislava. Weil der globale Automobilmarkt mit der Pandemie stark eingebrochen ist, wird das die Slowakei als Land mit der weltweit höchsten Pro-Kopf-Produktion von Fahrzeugen schmerzen. Ďurana spricht von "großer Unsicherheit". Prognosen sagen im laufenden Jahr weltweit 30 Prozent weniger Automobilverkäufe als 2019 voraus. Allein das würde das slowakische BIP um 4 Prozent drücken. Zudem befinde sich die Produktion nach Wiederanlauf noch weit unter ihrer Kapazität. In der Lieferkette fehlten weiterhin Komponenten.
Zur Automobilindustrie in der Slowakei gehören nämlich nicht nur die Werke von VW in Bratislava, von PSA und Jaguar Land Rover in Trnava und Nitra in der Westslowakei und von Kia im nordslowakischen Žilina. Sechsmal mehr Arbeitnehmer als die Produktionsstätten beschäftigen Ďurana zufolge die Zulieferer. Allein Schaeffler als viertgrößter Arbeitgeber der Slowakei beschäftigt rund 10000 Angestellte. VW ist mit rund 14600 Mitarbeiten die Nummer Eins im Lande.
Gerade kleinere Zulieferer kämpfen in der Krise ums Überleben. Mitte Mai meldete der auf bestimmte Keramik- und Metallteile spezialisierte österreichische Konzern Miba vorsorglich die Kündigung von 192 der 1024 Angestellten des Werks Dolný Kubin in der Nordslowakei an. "Das bedeutet nicht, dass wir auch 192 Mitarbeitern kündigen werden", sagt Miba-Sprecher Wolfgang Chmelir. Die Vorinformation sei gesetzlich vorgeschrieben. Die Erwartungen an die slowakische Regierung, die erst seit März im Amt ist, sind jedoch klar: "Ein Kurzarbeitsmodell, wie wir es aus Österreich und Deutschland kennen, würde in dieser Situation sehr helfen."
Die Präsidentin schlägt Alarm
Wegen der Abhängigkeit der Slowakei von der Autoindustrie schlug vergangenen Freitag Staatspräsidentin Zuzana Čaputová Alarm. Sie sagte im slowakischen Parlament: "Die Tatsache, dass die Slowakei eine Werkstatt des weltweiten Automobilmarkts ist, sollten wir als eine Übergangsperiode betrachten, die ihre Vorteile hatte, aber wir müssen davon wegkommen, indem wir das heimische Geschäftsumfeld als Ort der Entwicklung, Innovation und Modernisierung unterstützen." Das Ziel der Präsidentin erscheint gerade mit Blick auf die jüngere Geschichte nachvollziehbar. Die Slowakei war einst die Waffenschmiede des früheren "Ostblocks". Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor 30 Jahren verlor die Waffenindustrie aber auf einen Schlag ihren Absatzmarkt. Massenarbeitslosigkeit und die finsteren Mečiar-Jahre folgten.