Neue Zürcher Zeitung, 21. Januar 2013
20 Jahre nach der Trennung
«Kinder» der Tschechoslowakei sind volljährig
Vor 20 Jahren gingen die Tschechische und die Slowakische Republik, zuvor vereint in einem gemeinsamen Staat, getrennte Wege. Wirtschaftlich dürften beide davon profitiert haben. Der Weg der Slowakei war dabei aber wesentlich steiniger.
Rudolf Hermann, Bratislava/Prag
«Wenn ich nach Prag fahre für ein Wochenende, habe ich Euro in der Tasche», sagt Vladimir Vano. Ein zufriedenes Lächeln huscht über sein Gesicht. Der Euro sei eine harte und respektierte Währung wie früher die Deutsche Mark und es sei ein besonderes Gefühl, sie zu besitzen, fügt er an.
Ungleiche Voraussetzungen
Vano ist Slowake. Mit Geld kennt er sich aus, denn er ist Chefökonom der slowakischen Tochtergesellschaft der Österreichischen Volksbank. Dass die Gemeinschaftswährung schwierige Zeiten durchlebt, ficht ihn nicht an. Für die Slowakei, so wird aus dem Gespräch mit ihm schnell klar, war und ist die Mitgliedschaft in der Euro-Zone ein grosses Plus und auf gewisse Weise die Krönung eines spektakulären Reformwegs.
Als die Tschechische und die Slowakische Republik, zuvor vereint im gemeinsamen Staat Tschechoslowakei, Anfang 1993 getrennte Wege gingen, war ein solcher Reformerfolg des östlichen der beiden früheren Landesteile keineswegs gesichert gewesen. Die Slowakei brachte deutlich schlechtere Voraussetzungen für dringend nötige Wirtschaftsreformen mit als die Tschechische Republik. Sie hatte einen kleinen Heimmarkt mit bloss 5 Mio. Einwohnern (Tschechien 10 Mio.) und war vor der Entstehung der Tschechoslowakei im Zuge des Zerfalls der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie stark agrarisch geprägt gewesen. Ein gebirgiges Land von etwa der Fläche der Schweiz, waren viele ihrer Verkehrswege kompliziert und beschwerlich.
Industrielle Tradition
Nach der Machtergreifung der Kommunisten wurde die Slowakei in forciertem Tempo industrialisiert. Sie erhielt Grossbetriebe der Rüstungs- und Schwerindustrie, die in Tälern der Karpaten vor den Blicken des Westens versteckt wurden. Die entstehende Wirtschaftsstruktur war der Slowakei aufgepfropft und nicht organisch gewachsen. Dies wiederum stellte sich beim Kollaps des Kommunismus als grosse Hypothek heraus. Die schwerindustriellen Betriebe, deren Produkte zuvor in den abgeschotteten Comecon-Markt gegangen waren, konnten im Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt nicht bestehen.
Darniederliegende Unternehmen produzierten Heere von Arbeitslosen. Es entstanden «Täler der Tränen», die als Ersatz für die zusammengebrochene Schwerindustrie wenige Arbeitsmöglichkeiten zu bieten hatten. Wesentlich besser präsentierte sich die Ausgangslage Tschechiens. Zwar lastete auch auf diesem Land das unselige Erbe des Kommunismus. Doch schon zu Zeiten der Doppelmonarchie waren die Länder der böhmischen Krone industrielles Kernland Österreich-Ungarns gewesen, eine wirtschaftliche Tradition, die sich in der Ersten tschechoslowakischen Republik fortsetzte. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es in Tschechien viel mehr Möglichkeiten, an Know-how und unternehmerische Strukturen anzuknüpfen, als in der Slowakei.
Begehrte Autoindustrie
Deshalb klingt wieder Stolz in der Stimme von Vladimir Vano mit, wenn er sagt, dass die Slowakei heute pro Kopf der Bevölkerung mehr Autos produziert als Tschechien. Rund 800 000 Einheiten für den europäischen Markt liefen vergangenes Jahr von den Produktionsstrassen in Bratislava (Volkswagen), Trnava (PSA) und Zilina (Kia). Das ist zwar in absoluten Zahlen weniger als die von Skoda, Hyundai und Toyota-PSA produzierten 1 Mio. Einheiten in Tschechien, doch hat das zweitgenannte Land eine doppelt so grosse Bevölkerung.
Nur positiv ist die Konzentration der Slowakei auf wenige Schlüsselindustrien, ausser Autos auf Konsumelektronik, allerdings nicht. Es sind Produkte, die vorwiegend für den Export bestimmt sind und das Land damit von den Konsumlaunen Europas und anderer Märkte abhängig machen. 85% der slowakischen Industrieproduktion gehen auf ausländische Märkte, 50% in die Euro-Zone. Wirtschaftlich gesehen sei man wie ein deutsches Bundesland, hielt unlängst Daniel Bytcanek fest, der in der slowakischen Regierung einen hohen Verwaltungsposten im geldpolitischen Bereich bekleidet.
Grosses Wohlstandsgefälle
Darin wiederum ist sich die Slowakei heute mit Tschechien ähnlich. Auch Tschechien ist ausgeprägt exportorientiert und seine Industrie stark auf eine Rolle als Zulieferer ausländischer – vielfach deutscher – Unternehmen fokussiert. Ein bedeutender Unterschied liegt jedoch darin, dass die tschechischen Produktionsunternehmen feiner verästelt und auch gleichmässiger über das Land verteilt sind als in der Slowakei. Das äussert sich im Weiteren in einer generell niedrigeren Arbeitslosigkeit.
Während in beiden Ländern die Hauptstädte Grossräume darstellen, die nach Kaufkraftparität einen Lebensstandard von etwa 170% des EU-27-Durchschnitts aufweisen, sind in der Slowakei die regionalen Unterschiede deutlich grösser und besteht von West nach Ost ein markantes Wohlstandsgefälle. Die West-Slowakei (ohne Bratislava) kommt auf etwa 80% des EU-Durchschnitts, die Mittel-Slowakei auf etwa 60% und die Ost-Slowakei nur auf 40%. Die Ost-Slowakei trägt als engere Heimat vieler Roma ferner wesentlich zur Sockelarbeitslosigkeit bei. In Tschechien liegen dagegen ländliche Regionen bei 60% bis 70% des Wohlstandsdurchschnitts der EU. Diese Situation ist eine Reflexion der günstigeren Wirtschaftsstruktur gegenüber der Slowakei, die Tschechien von Anfang an mitbrachte.
Jeder für sich verantwortlich
Die Unterschiedlichkeit der beiden Landesteile des früheren gemeinsamen Staats war ein wesentlicher Grund für virulent werdende Disharmonien gewesen. Wo man hinhörte, wurde über «die anderen» geklagt. Die Tschechen fanden, sie müssten die Slowaken durchfüttern, in Bratislava wiederum herrschte ständig das Gefühl vor, auf der Ebene der Föderation ungenügend repräsentiert zu sein und herablassend als «kleiner Bruder» behandelt zu werden.
Wäre das Volk befragt worden, wäre es dennoch kaum zur «samtenen Scheidung» von 1992 gekommen. Doch die Politiker machten die Sache unter sich aus. Auf slowakischer Seite bestand in der massgeblichen politischen Elite ein starker Wunsch nach Eigenstaatlichkeit. In Prag wiederum witterte der damalige Reformarchitekt und Ministerpräsident der tschechischen Teilrepublik, Vaclav Klaus, die Chance, die von ihm konzipierte Transformation hin zu einer «Marktwirtschaft ohne Adjektive» klarer umzusetzen, wenn die Slowakei mit ihren stark anders gelagerten sozialen und wirtschaftlichen Problemen einen eigenen Weg ginge.
Tatsächlich hat die Trennung beiden Seiten ermöglicht, einen auf die jeweiligen Bedürfnisse der Bevölkerung zugeschnittenen Reformweg zu gehen. Dies scheint sich im Grossen und Ganzen ausbezahlt zu haben. Wie der Weg eines gemeinsamen Staats verlaufen wäre, kann indes nur noch Gegenstand hypothetischer Erwägungen sein. In jedem Fall aber sei es fair für beide Seiten, dass sie ihre eigenen Probleme selber lösen mussten, resümiert der Finanzanalytiker Vano im Rückblick auf die letzten 20 Jahre. Er drückt dabei ein Gefühl aus, das heute überwiegend auch von solchen geäussert wird, die sich damals gegen die Auflösung der Tschechoslowakei gesträubt hatten.