Wenn die Exotik in Europa beginnt
Vysoké Tatry - unbekannte Skitourenregion in der Slowakei
Von Manuel Gossauer und Manfred Heini
Trotz der Gemütlichkeit in der warmen Ralnerova Chata schickt uns Stano nach der dritten Runde Tee in den Regen hinaus, um den Aufstieg in die Zamkovskeho Chata (1475 m) unter die vollgesogenen Felle zu nehmen.
Diese Hütte liegt am Eingang des Malá Studená Dolina (das «kleine kalte Tal»), ist äusserst gemütlich und gut geheizt.
Über Nacht hat sich das Wetter wesentlich gebessert - jetzt schneit es! Im dichten, von Nebel verhangenen Wald machen wir uns auf den Aufstieg zum Baranie Sedlo (2389 m). Erfreulicherweise steht auf halbem Weg die Téryho Chata. Beim Verlassen der Hütte empfngt uns die blendende Sonne - statt Nebel und Wald gibt es plötzlich auch Landschaft! Es ist bitterkalt geworden. Das kontinentale Klima macht sich deutlich bemerkbar. Die mit Reif überzogenen, steil aufragenden, «Štít» genannten Spitzen der Zweitausender L'adov Štít, Baranie Rohy, Py?ny Štít und Lomnický Štít werden durch tief eingeschnittene Scharten getrennt. Die Ambiance erinnert an die wilden Zacken des Dauphiné. Mehr als die felsigen Spitzen werden uns diese Übergänge in den folgenden Tagen beschäftigen. Der Aufstieg in den Baranie Sedlo macht uns mit der slowakischen Aufstiegstechnik und -taktik bekannt: steile Spur an den Fuss des Couloirs, Steigeisen an die Schuhe, Ski auf den Rucksack und in der «Direttissima» hoch. Wir ziehen ein paar Spitzkehren vor, tragen die Ski dafür nur die letzten 30 und nicht 130 Höhenmeter.
Für einmal besteigen wir sogar einen richtigen Gipfel, wo wir verwöhnte Sommerkletterer aus den Alpen eine Überraschung erleben: Zu unserer Verblüffung erreicht eben eine Dreierseilschaft den Gipfel, deren Route durch die Ostwand und über den Nordgrat führte. Tausend Meter weiter unten grüsst schon die Chata pri Zelenom Plese (die «Hütte am Zelen-See»). Sie wird von der ehemaligen Skirennfahrerin Jana Ganternova geführt und liegt einer Spinne gleich inmitten eines Netzes von Fussspuren, die zu Einstiegen von Kletterrouten führen. Stano erklärt, dass in der Tatra vorwiegend im Winter geklettert wird.
Zurück von der Gipfeltour, mit fixiertem Seil für den Abstieg, beschert uns der Blick ins wohl 50 Grad steile und 10 Meter enge Abfahrts-Couloir den nächsten tiefen Eindruck. Stano schwingt sich im mitfliessenden Pulverschnee durch das Couloir hinab. Bald schon hüllt uns Nebel ein, so dass wir uns an die nächste Attraktion der Abfahrt herantasten: «Flaschku» - der Flaschenhals. Er führt uns zur Mulde mit dem gefrorenen Zelen-See, bei dem Janas Berghotel steht. Von hier führt uns Stano am Tag darauf auf den Hlúpy (der «dumme Berg») in der östlichen Tatra. Sie grenzt sich scharf von der Hohen Tatra ab: Weite Hänge prägen das Gelände, sanft geschwungene Gipfel erinnern ans Bünderland.
Nach der warmen Dusche legen sich die einen unter das dicke Federbett im Zehnerzimmer, die anderen treffen sich wie die Slowaken beim Pivo (Bier) im grossen Saal. Allmählich trudeln die Winterkletterer ein. Ihre Routen sind auch an den Standplätzen nicht mit Haken ausgerüstet. Trotzdem durchklettern sie Wände bis zu 800 Meter Höhe, zum Teil im 6. Schwierigkeitsgrad, und nehmen dabei durchaus eine Biwaknacht in Kauf. Die gefrorenen Seile, deren Schlangenlinien bunte Muster bilden, werden in den Gängen der Hütte zum Trocknen ausgelegt. Im Gegensatz zu den finanzkräftigeren Touristen begnügen sie sich mit Massenlager, statt Menu à la carte werden draussen Kocher in Gang gesetzt und Teigwaren und Konserven gewärmt. So und ähnlich müssen sich Spitzenalpinisten aus dem Osten wie Wanda Rutkiewicz oder Jerzy Kukuczka ihre Härte geholt haben.
Erholungsgebiet der Slowaken
Unser nächster Ausgangspunkt ist Tatranská Polianka, den wir von Vysoké Tatry mit der Schmalspurbahn erreichen. Der Südfuss der Hohen Tatra war und ist ein wichtiges Erholungsgebiet der Slowaken. Kurort reiht sich an Kurort, Hotels und Pensionen, die Anfang des letzten Jahrhunderts im Jugendstil erbaut worden waren, werden liebevoll herausgeputzt. Die typischen Volksferiendörfer sind Zeugen der sozialistischen Periode. Eine Schmalspurbahn verbindet die Dörfer in einem dichten Fahrplan mit neustem Rollmaterial. Herrlich ist der Kontrast zwischen modernsten Billettautomaten und der traditionellen Uniform der Schaffnerin, die mit urtümlicher Zange die Computerfahrscheine entwertet. Zahnrad- oder Standseilbahnen erschliessen die höher liegenden Ski- und Wandergebiete. Und als Höhepunkt sozialistischer Architektur und Ambiance entpuppt sich unser nächster Übernachtungsort, das Berghotel Sliezky Dom. Zwingend müsste diese Anlage unter Heimatschutz gestellt werden; gar der Service ist vom damaligen Zeitgeist geprägt. An der Tür zur Küche hängt noch immer ein Schild: «Stören Sie nicht, wir wissen, dass Sie da sind.» Dennoch kommen wir zu einem guten Abendessen!
Bei leichtem Nebel starten wir schliesslich, nach dem Ausflug auf einen Vorgipfel des Gerlachovsky Štít, nochmals zu einer «echten» Tatra-Tour: kein Gipfel, dafür steile Couloirs à discrétion im Aufstieg und in der Abfahrt. Zielsicher steuert Stano im gezackten Grat den richtigen Übergang an und sichert die obersten dreissig Meter mit dem Seil. Plötzlich reisst der Nebel auf und gibt den Blick frei in den Kessel des Bielovodská Dolina (das «Weisswassertal») und das flache polnische Tatra-Vorland. Vor allem zeigt uns Stano in der nächsten Kette östlich einen Einschnitt, aus dem eine schmale Schneezunge hinabführt - die Fortsetzung unserer heutigen Tour. In diesem Aufstieg setzt sich die Schweizer Skitechnik durch: Matej hat sich unsere Anregungen zu Herzen genommen und beweist, dass er die Spitzkehren nun in einem drei Meter schmalen Couloir beherrscht.
Knödel in der Räuberhütte
Das nächste Zwischenziel nach einer Abfahrt im makellosen Pulverschnee heisst Zboinicka Chata, die «Räuberhütte», die sich im dicken Nebel verbirgt. Vater Stano und Sohn Matej sind sich für einmal uneins, aber seine Erfahrung gibt Stano Recht. Er lässt anhalten, weil er sicher ist, die Hütte knapp verfehlt zu haben. Wir ziehen die Felle auf. Prompt hebt sich kurz der Nebel, die Hütte zeigt sich keine zwanzig Meter über uns. Sie entpuppt sich als warm und gemütlich, das Dessertangebot lässt keine Wünsche offen. Der Renner sind die «Buchti», eine echte Spezialität: luftige Knödel, mit Heidelbeerkonfitüre gefüllt, mit Schokolade übergossen und mit Puderzucker garniert. Das Richtige, um Energie für die kalte Nebelabfahrt durchs Vel'ká Studená Dolina (das «grosse kalte Tal») zu tanken. Viele der Hütten in der Tatra werden nach wie vor durch Träger versorgt, die auch im Winter mit schweren Lasten zu Fuss hinaufstapfen. Im Sommer wird gar eine Meisterschaft durchgeführt, ausgetragen in sechs Läufen. Jedem Teilnehmer werden auf einem hölzernen Traggestell 60 Kilo aufgeladen. In den Hütten hängt eine Federwaage an der Decke, und jeder, der mit dem ganzen Gepäck ankommt, erhält als Belohnung einen Tee.
Am Fuss der Hohen Tatra herrscht tiefer Winter, still und dicht fällt der Schnee. Die Strassen schrumpfen zwischen den Schneewälmen auf die halbe Breite. Beim letzten Teehalt in einer beliebten Hütte reden wir bereits von unserem nächsten Aufenthalt in der Hohen Tatra, bei dem wir weitere Berge, Übergänge, Couloirs, Hütten, Spezialitäten, Leute kennen lernen möchten. Die Reise in den Osten hat sich gelohnt!