Neue Zürcher Zeitung, 25. Februar 2011
Die Macht der «einfachen Leute»
Ein unkonventioneller Politiker als Unruhestifter in der wackligen slowakischen Regierungskoalition
Die prekäre Mehrheit der regierenden Mitte-Rechts-Koalition in der Slowakei stützt sich auf einige Abgeordnete, die mit unkonventionellen und zum Teil populistischen Ansätzen den eingespielten politischen Betrieb in Unruhe versetzen.
Rudolf Hermann, Bratislava
Er ist ein Unruhestifter, der den Spitzenpolitikern der slowakischen Regierungskoalition Schlaf und Nerven raubt: der erfolgreiche Unternehmer Igor Matovic. Wäre er bei seinem Leisten geblieben, dem Verlegerhandwerk, mit welchem er es zu beträchtlichem Wohlstand gebracht hatte, könnte man den 38-Jährigen als lauten, aber letztlich unschädlichen Exzentriker abtun.
Unerwarteter Siegeszug
Doch Matovic ist inzwischen auch Politiker. Zusammen mit drei Gesinnungsgenossen aus einer populären Bürgerinitiative, die sich «Einfache Leute» (Obycajni Ludia, OL) nennt, erhielt er vor den letzten Wahlen das Angebot, sich auf die Liste der liberalen Formation Freiheit und Solidarität (Sloboda a Solidarita, SaS) setzen zu lassen. Die vier belegten auf eigenen Wunsch die hintersten Plätze, die keine Aussicht auf eine parlamentarische Zukunft boten.
Das Volk jedoch entschied anders. Matovic und seine Gefährten entwickelten solche Zugkraft, dass sie nicht nur der SaS zu einem kaum erwarteten Glanzresultat verhalfen, sondern durch einen massiven Zufluss persönlicher Präferenzstimmen allesamt im Parlament landeten. Dort sind sie nun das Zünglein an der Waage, das der Mitte-Rechts-Koalition aus der Slowakischen Christlichen und Demokratischen Union (SDKU), der SaS, den Christlichdemokraten (KDH) und der Partei Most-Hid, die Anliegen der ungarischen Minderheit vertritt, die Mehrheit sichern kann.
Von Partei- oder Koalitionsdisziplin will allerdings Matovic nichts wissen. Seine Idealvorstellung wäre ohnehin, dass im Parlament lauter Unabhängige sässen, die ihr Mandat - so wie es die Verfassung ja postuliert - nach ihrem besten Wissen und Gewissen ausübten. Während das Kabinett von Ministerpräsidentin Radicova (SDKU) mit dem Anspruch angetreten war, die Politik von der Vetternwirtschaft und den zweifelhaften Praktiken zu säubern, die die linksnationale Vorgängerregierung Robert Ficos unrühmlich geprägt hatten, schockierte Matovic unlängst in einem Interview mit der Zeitung «Sme» durch die Aussage, auch in der gegenwärtigen Koalition habe prinzipiell jeder Abgeordnete ein inoffizielles Kontingent an «politischen Nominationen» für lukrative Posten in der Staatsverwaltung oder bei staatlichen Unternehmen, die er mit Kandidaten seiner Wahl besetzen könne. Damit löse die Koalition zwar nicht ihr Versprechen ein, dass fachliche Qualifikationen statt Netzwerkbeziehungen ausschlaggebend sein sollten bei der Besetzung von Verwaltungsposten. Doch verpflichte sie die Abgeordneten, die von diesem System Gebrauch machten, zur Linientreue.
Heikles Thema Bürgerrecht
Über sich selber erklärte Matovic im erwähnten Interview, keinen Gebrauch von der Möglichkeit politischer Nominationen gemacht zu haben, weshalb er auch nicht in diesem Sinne erpressbar sei. Auch mit anderen Ansichten, die gegen die Politik der Koalition laufen, hält er nicht hinter dem Berg. So irritierte er zuletzt damit, dass er beim heiklen Geschäft der Frage des Doppelbürgerrechts eine eigene Linie propagierte.
Indem mit Most-Hid eine bei der ungarischen Minderheit verankerte Partei Teil der Koalition ist, strebt die Regierung eine Änderung eines kontroversen Gesetzes an, das noch vom Kabinett Fico verabschiedet worden war. Als Reaktion auf den Vorstoss Ungarns, den Angehörigen magyarischer Minderheiten im Ausland die ungarische Staatsbürgerschaft und möglicherweise auch das Wahlrecht anzubieten, verabschiedete das Parlament in Bratislava im letzten Frühjahr eine Regelung, dass die slowakische Staatsangehörigkeit verliere, wer anders als durch Geburt oder Heirat eine neue erwerbe.
Dieser Passus soll nun wesentlich abgeschwächt werden. Matovic allerdings erklärt (und hinter vorgehaltener Hand geben ihm darin auch andere recht), dass die Möglichkeit des Erwerbs einer weiteren Staatsbürgerschaft an strikte Bedingungen wie langfristigen Aufenthalt oder andere nachweislich starke Verbindungen zum fraglichen Land geknüpft werden sollte. Sonst entstehe im Falle Ungarns, namentlich bei der Zuerkennung auch des Wahlrechts, eine Situation, dass ungarische Politiker in der Südslowakei Wahlkampf betreiben und auf Stimmenfang gehen würden. Dann sei es nur noch ein kleiner Schritt zu einer gefährlichen Polarisierung der slowakischen Gesellschaft und zu verstärkten nationalistischen Auseinandersetzungen. Diese aber würden niemandem helfen und höchstens den Einfluss der Rechtsradikalen stärken.
Weil die Koalition das schwierige Thema ungeschickt angefasst hatte, entstand die Situation, dass Matovic gegen das eigene Lager stimmte und darauf aus der Fraktion der SaS ausgeschlossen wurde. In hektischen Verhandlungen gelang es den Koalitionsspitzen, die drei übrigen «einfachen Leute» davon abzubringen, Matovic zu folgen und damit die Koalition in die Minderheit zu versetzen. Der Preis dafür allerdings ist, dass sich die OL-Abgeordneten de facto als fünfte Kraft der Koalition etabliert haben, auf die in Zukunft speziell Rücksicht genommen werden muss.
Eine Reizfigur
Der oft mit spitzbübischem Lächeln auftretende Matovic sagt von sich selbst, seine Rolle im Parlament bestehe darin, den Politikern (zu denen er nicht gezählt werden will) einen Spiegel vorzuhalten, damit sie die Fehler des Systems sehen könnten. Damit wolle er erreichen, dass Politik und Verwaltung dem Volk dienten statt nur sich selber, wie es leider in der Slowakei der Fall sei. Damit zeigt er auf einen Missstand, der nicht nur die Slowakei, sondern praktisch alle ostmitteleuropäischen Reformstaaten betrifft. Denn begünstigt durch fehlende Kontrollmechanismen einer noch nicht ausreichend gefestigten Bürgergesellschaft, konnte in den ersten Transformationsjahren eine Politikerkaste entstehen, die den Staat auf mehr oder weniger krasse Weise als Selbstbedienungsladen interpretiert. Dieses System wieder loszuwerden, erweist sich jetzt als überaus schwierig.
Die Kampfmethoden Matovics stossen allerdings nicht nur bei den Politikern auf Ablehnung, sondern auch bei Kommentatoren und Analytikern. Der respektierte Soziologe Martin Butora meint, in Teilen sei die Stossrichtung des Querschlägers berechtigt, doch weise sein Programm auch unglaublich populistische und politisch nicht umzusetzende Elemente auf, gerade etwa die Forderung nach ausschliesslich unabhängigen Abgeordneten. In der gegenwärtigen Situation einer fragilen Koalition trage sein Stil dem heiklen Umfeld viel zu wenig Rechnung.
Ein Kommentator der Zeitung «Sme» bezichtigte Matovic rundheraus einer verlogenen Rhetorik. Als Parlamentarier sei er Politiker, ob er das akzeptiere oder nicht. Deshalb habe er keine andere Wahl, als das System im Rahmen seiner Möglichkeiten von innen her zu ändern. Indem die «einfachen Leute» die Balance der Macht in ihren Hän