Neue Zürcher Zeitung, 14. Januar 2013
Wege aus der Zeitenschrunde
Košice ist eine jener ostmitteleuropäischen Städte, die aus der Zeit gefallen scheinen. Als atemberaubendes historisches Ensemble weitgehend erhalten, kann die Stadt auf eine multikulturelle Vergangenheit zurückblicken, von der indes nur Spuren geblieben sind. Nun soll das alte Erbe neu erweckt werden.
von Andreas Breitenstein
Wer die geschichtliche Motorik des ostmitteleuropäischen Binnenraumes begreifen will, darf die ehemaligen k. u. k. Provinzstädte nicht ausser acht lassen. Hier lebte einst eine ethnisch gemischte Bevölkerung, die eine kosmopolitische Urbanität pflegte, welche den habsburgischen Vielvölkerstaat in nuce nachbildete. Während die Landschaft ringsum oft national homogen oder ethnisch geteilt war, pflegte man vom Bürgertum bis zum Proletariat einen liberal-innovativen Geist. In Verwaltung und Bildung, in den hohen Künsten wie in der Alltagskultur eiferte man dem Vorbild der Metropolen Wien und Budapest nach. Zu den mittelalterlichen Kathedralen, den Renaissance-Ensembles und barocken Innenstädten gesellten sich in der Gründerzeit repräsentative Theater und Museen, Universitäten und Bibliotheken, Verwaltungsgebäude und Bahnhöfe, Plätze und Boulevards, Parks und Friedhöfe. Wer es sich leisten konnte, liess sich vom Wiener Architekturbüro Fellner & Helmer ein mondänes Stadttheater errichten.
Es taten dies Brünn, Bratislava, Timisoara, Szeged, Odessa, Zagreb, Cluj, Sofia, Czernowitz, Iasi – um nur einige Orte mit einem ihrer vielen möglichen Namen zu nennen. Massgebliche Träger dieser urbanen Kultur waren assimilierte Juden. Viele von ihnen zog es am Ende in die grossen Metropolen. Von Rosa Luxemburg über Joseph Roth bis Ludwig von Mises ist die Politik-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte voll von ihnen. Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust verloren diese Städte ihre Bedeutung, und mit dem Niedergang des Eisernen Vorhangs senkte sich ein Dornröschenschlaf über sie und ihre Schönheit herab (oft überstanden sie den Krieg abseits der Fronten nur leicht lädiert). Das realsozialistische Vorantreiben der Schwerindustrie beschränkte sich aufs Umland, und weil mit der kapitalistischen Geldwirtschaft auch der architektonisch-modernistische Übertrumpfungsmodus und Zerstörungswahn fehlte, beliess man es dabei, um die alten Zentren mit einem Gürtel von monotonen Arbeiter-Trabantenstädten zu umziehen.
Reichtum dank Handel
Das im Osten der Slowakei unweit der Grenze zu Ungarn gelegene Košice, die mit rund 240 000 Einwohnern zweitgrösste Stadt des Landes, entspricht diesem Modell. An den Ausläufern des slowakischen Erzgebirges liegend, war die von Ungarn, Slowaken, Deutschen und Juden bewohnte Freistadt der Schnittpunkt wichtiger Handelsstrassen von Nord nach Süd und von Ost nach West, was ihr Bedeutung und Wohlstand verschaffte. Jahrhundertelang war Kassa (deutsch Kaschau) eines der massgeblichen Zentren des Königreichs Ungarn, wobei die Macht- und Prachtentfaltung des Ortes im 14. und 15. Jahrhundert mit dem Fünf-Städte-Bund «Pentapolitana» (mit Prešov, Bardejov, Sabinov und Levoča) und im 17. Jahrhundert mit dem Status als De-facto-Hauptstadt Oberungarns ihren Höhepunkt erreichte.
Als sich die Handelsrouten verschoben, geriet Kassa ins Abseits und wurde eine landwirtschaftlich geprägte Provinzstadt. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns 1918 fiel es an die Tschechoslowakei, eine Tatsache, an dem die vorübergehende Wiederkehr der Ungarn von 1938 bis 1945 nichts änderte. Unter der Herrschaft der Kommunisten wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Bau des Ostslowakischen Eisenwerkes die Industrialisierung und mit ihr der Bau von Plattenbausiedlungen vorangetrieben. Heute bildet die Stadt mit dem Hauptarbeitgeber U. S. Steel Košice sowie drei Universitäten das Rückgrat der strukturschwachen und verkehrstechnisch isolierten bergigen Ostslowakei. Zwar werden die Lücken in der Autobahn nach Bratislava langsam geschlossen und besitzt die Stadt einen Flughafen, doch an die Erfolgsgeschichte der Transformation nach 1989 hat dieser Landesteil bisher nicht teilgehabt.

Umso willkommener ist für Košice die Gelegenheit, 2013 (neben Marseille) als Kulturhauptstadt Europas international auf sich aufmerksam zu machen. Im Rahmen der EU-Kulturinitiative standen Förderungsmittel im Umfang von 60 Millionen Euro bereit, um das eigene Profil für ein Publikum zu schärfen, das sich für das historische Erbe und die Gegenwart des Ortes interessiert. Zusätzlich steuern der slowakische Staat und die Stadt selber 15 Millionen für den Aufbau eines Museumsquartiers, den Umbau der Kaserne in ein Kulturzentrum und die Einrichtung eines Zentrums für Contemporary Art bei (in der umgebauten alten Schwimmhalle – bescheidener Kernbestand sind einige Originaldrucke von Andy Warhol, dessen Eltern aus den nahen slowakischen Karpaten stammen). Ein wichtiger Standortvorteil ist, dass sich von Košice aus in Tagesausflügen fünf Unesco-Welterbestätten besuchen lassen.
Natürlich will Košice angesichts der langen wirtschaftlichen Agonie mehr als nur vorübergehend mit einem opulenten Festival quer durch Künste und Bräuche ins Rampenlicht treten (vorgesehen sind 360 Veranstaltungen). Geplant sind daher langfristig angelegte interkulturelle Aktivitäten wie die Einladung von «Artists in Residence» und Studentenaustauschprogramme. Nicht weniger als eine Transformation von der Industriestadt zum Medien-, Technologie- und Kreativstandort schwebt den Projektverantwortlichen vor. Es ist dies ein standardmässig utopisches Ziel, in dessen Zeichen schon frühere osteuropäische Kulturstädte wie Pécs, Maribor, Vilnius oder Sibiu antraten. Unschwer ist darin Zweckoptimismus und Wunschdenken zu erkennen. Woher soll die geballte digitale Kreativität plötzlich kommen, und wer sollte ihrer bedürfen? Der Quantensprung ins postindustrielle Zeitalter ist selbst im weiterentwickelten Westen weitum Illusion geblieben.
Sándor Márais Heimatort
So honorig es ist, auf die frische urbane Gestaltungskraft junger Geister setzen zu wollen – Košices Kapital besteht zweifellos in der einzigartigen Altstadt. Ein Trumpf ist zudem der Umstand, Geburtsort des ungarisch-deutschen Schriftstellers Sándor Márai (1900–1989) zu sein, dessen Romane über das dekadente ungarische Grossbürgertum nach 1918 sich seit Jahren steigender internationaler Beliebtheit erfreuen, in der Slowakei selber allerdings kaum bekannt sind. Im Sozialismus als aufrechter Antikommunist verfemt und verboten, wird der im kalifornischen Exil verstorbene Dichter in Košice heute mit einer lebensgrossen Skulptur sowie in seinem Geburtshaus mit einer (eher karg bestückten) Dauerausstellung geehrt. Obwohl Sándor Márai der geistigen Enge Košices nach dem Ersten Weltkrieg nach Budapest und von da ins «richtige Europa» entfloh, blieb er seiner Heimatstadt in Sehnsucht verbunden. Wiederholt hat er in seinen Notizen das Glück des Aufwachsens im Schosse des k. u. k. Friedens beschworen und die letzten Tage dieses Idylls im expressionistisch morbiden Schülerroman «Die jungen Rebellen» (1930) dargestellt. Das 1899 vom Siebenbürgener Architekten Adolf Láng errichtete Stadttheater spielt darin eine Schlüsselrolle.
Bis zur letzten Minute wurde im historischen Zentrum renoviert, ganze Strassenzüge wurden umgepflügt und Fassaden erneuert. Was die Innenstadt mit ihrer majestätischen spindelförmigen Hauptachse, der «Hlavná» – die vom Elisabeth-Dom aus dem 15. Jahrhundert, dem Urban-Turm und dem Stadttheater, die wie eine langgezogene Insel in ihrer begrünten Mitte liegen, in zwei Teile geteilt wird –, zu bieten hat, ist einzigartig. Mit über einem Kilometer Länge ist die «Hlavná» nicht nur der längste Boulevard der Slowakei, sondern auch ein grosszügig bemessener Stadtraum, der sich Festen und Festivals aller Art anbietet. Die leicht verkeilt zur Magistrale stehende Kathedrale birgt die sterblichen Reste des ungarischen Nationalhelden Franz II. Rákóczi (1676–1735) und ist der grösste Kirchenbau der Slowakei sowie der östlichste gotische Sakralbau Europas. Als solcher markiert sie stolz die Grenze der lateinischen-christlichen Welt wider die russische Orthodoxie und den Islam der Türken, die Mitte des 16. Jahrhunderts zwei Drittel von Ungarn erobert hatten.
Dicht an dicht reihen sich entlang der «Hlavná» Kirchen, barocke Palais und klassizistische Bürgerhäuser. Der Freiheit der Flaneure wurde die Trambahn geopfert, von der noch die Schienen zeugen, ausserdem suchte man dem Volksgeschmack auf dem Platz vor dem Theater mit einem «singenden Brunnen» zu entsprechen, dessen Wasser alle paar Minuten zu den Rhythmen traniger Pop-Melodien sich spritzend erheben. Die Installation geht auf den überschiessenden Enthusiasmus des ehemaligen slowakischen Staatspräsidenten Rudolf Schuster zurück, der als Bauingenieur und Hydrologe von 1983 bis 1986 und 1994 bis 1999 initiativer Bürgermeister von Košice war und als solcher der Stadt (wie der Vorstadt) nicht nur eine solide Wasserversorgung einrichtete, sondern auch den eminenten kunst- und kulturhistorischen Rang ihres Ensembles erkannte und ohne den Segen von oben dessen Restaurierung in die Wege leitete.
Schusters Lebensweg vom kommunistischen Apparatschik zum Reformer wirft ein Licht auf die deutschstämmige Bevölkerung der Region, die einst Ungarndeutsche hiessen und sich heute Karpatendeutsche nennen. 1934 als Sohn eines Waldarbeiters geboren, wuchs er auf in Medzev (Metzenseifen), einem Zentrum deutscher Kultur in der Slowakei. Lange vorbei sind die nationalkommunistischen Zeiten, da es den Deutschen verboten war, ihre Volkskultur zu leben. Der Ort, heute ein blitzblank geputztes Strassendorf mit 4200 Einwohnern, wurde im 13. Jahrhundert gegründet und gab deutschen und slowakischen Bergleuten Obdach und Arbeit. Ihres Wasserreichtums wegen wurde die Gegend im Zuge der Industrialisierung ein Zentrum des Handwerks, wobei es den mit Wasserrädern betriebenen Hammerschmieden zu verdanken war, dass man in der Herstellung landwirtschaftlicher Geräte führend wurde. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bildeten die Deutschen die weitaus grösste Bevölkerungsgruppe; nach Flucht und Vertreibung und nach Jahrzehnten der Assimilation ist ihr Anteil auf fünfzehn Prozent geschrumpft. Heute, da in der Slowakei weniger als 6000 Karpatendeutsche leben und kaum Jugend nachwächst, kann es nur noch darum gehen, die Rudimente dieser alten Volkskultur zu retten. Zwar hat die deutsche Sprache mit der Wirtschaftsmacht Deutschlands an Attraktivität gewonnen, doch sind die Universitäten von Košice trotz deutschen Dozenten weit davon entfernt, Deutsch als Wissenschaftssprache pflegen zu können.
Ungarn, Roma und Juden
Wirklich multikulturell ist Košice schon lange nicht mehr. Die Ungarn sind eine mitunter aufmüpfige Minderheit, und seit langem laboriert man in der Stadt dran herum, wie mit den Roma umzugehen sei, von denen die meisten nicht in die Mehrheitsgesellschaft integriert sein wollen und doch von der Sozialhilfe leben. Die obere Slowakei ist eines ihrer Stammlande. Sie wurden aus dem Zentrum vertrieben und leben in teilweise ruinengleichen Plattenbauten am Rande der Stadt, der berüchtigten Siedlung «Lunik 9» (ein separater Artikel folgt). Ein Lichtblick immerhin ist das kleine Romathan- Theater in der Altstadt, das seit zwanzig Jahren Stücke in Romani auf die Bühne bringt.
Traurig verlief die Geschichte der Kaschauer Juden, von deren Existenz als steinerne Zeugen heute noch drei Synagogen künden. War vor dem Weltkrieg ein Viertel der 60 000 Einwohner zählenden Stadt jüdisch, so überlebten nur 2000 bis 3000 den Holocaust. Heute bilden etwas mehr als 250 registrierte Gläubige die zweitgrösste slowakische Gemeinde, der Rabbi reist einmal in der Woche aus Budapest an. Košice war eine Drehscheibe für die Bahntransporte der ungarischen Juden nach Auschwitz. In der orthodoxen Synagoge, die zu kommunistischen Zeiten eine Lagerhalle war und nun wieder hergerichtet wird, ist für die Zukunft ein Museum darüber geplant.
Man mag beklagen, dass unmittelbar vor den Toren Košices monströse Konsumtempel und hässliche Hotels entstehen, welche den globalisierten Lifestyle auch in diesen Winkel Europas bringen. Doch durch ebendiese Auslagerung präsentiert sich Košices Altstadt mit ihrer Magistrale und ihren Gassen, mit ihren Monumenten und ihren Bürgerhäusern, Cafés und Kellern noch immer in berückender kommerzieller Unschuld. Man fahre hin, bevor irgendwann die Ryanair-Flieger landen und das Bier zu strömen beginnt. Das Schöne lag immer schon nahe beim Schrecklichen.