Neue ZürcherZeitung, 28. Dezember 2017
Die Tschechen und die Slowaken stehen sich heute näher als im gemeinsamen Staat
In Prag wurde 1992 zwar oft demonstriert, doch die Gegner der Trennung von der Slowakei schwiegen meist. David Brauchli / AP
Vor 25 Jahren ging die Tschechoslowakei unter. Die friedliche Trennung gilt als Vorbild. Nach anfänglichen Spannungen näherten sich die beiden Staaten einander stetig an.
Meret Baumann, Prag
In der Silvesternacht, die das Ende der Tschechoslowakei besiegelte, hatte Katerina Pecenova unsentimentale Gedanken. Die damals 25-Jährige war schwanger mit dem zweiten Kind und überlegte, welche Staatsbürgerschaft dieses bei der Geburt im Frühling haben werde. Die junge Familie lebte in Prag, Katerinas Mann Miroslav aber war Slowake, wie auch der erste Sohn Michal. Für beide habe aus praktischen Gründen ein tschechischer Pass beantragt werden müssen, erzählt Katerina. Gleichzeitig eine slowakische Staatsbürgerschaft zu haben, war noch nicht möglich. Leicht fiel das Miroslav nicht, wie er überhaupt die Trennung der Teilrepubliken ablehnte.
Ins Ausland in die Heimat
Es war nicht die einzige Unannehmlichkeit für die Familie Pecena. Sowohl Katerinas als auch Miroslavs Eltern lebten in der Slowakei, und so fuhren sie mit den Kindern oft in den Südosten der einstigen Föderation. Der vertraute Weg in die Heimat, wo auch Katerina aufgewachsen war, führte nun plötzlich ins Ausland – unterbrochen von übertrieben grossen Grenzanlagen, die das neue nationale Selbstbewusstsein zum Ausdruck brachten. Einmal vergass Katerina, ihrer Mutter die Pässe der Kinder zu überlassen, als diese ein paar Tage in der Slowakei blieben. Als die Grossmutter ihre Enkel zurück nach Prag bringen wollte, wurde sie an der Grenze aufgehalten. Erst nach gutem Zureden und einem Telefonat mit Katerina war der Verdacht einer Kindesentführung ausgeräumt. «Die neuen Regeln waren halt für alle noch ungewohnt», sagt Katerina entschuldigend und fügt schmunzelnd an, dass ihre tschechischen Eltern in Zilina ab 1993 alle sechs Monate ihre Aufenthaltserlaubnis erneuern mussten, obwohl sie schon seit 30 Jahren in der slowakischen Stadt wohnten.
Dass die Trennung der Tschechoslowakei abgesehen von solch harmlosen Anekdoten problemlos verlief, war nicht selbstverständlich. Zeitgleich mit dieser «samtenen» Scheidung zerfiel Jugoslawien in einem blutigen Bürgerkrieg. Anders als auf dem Balkan hätten Religion und territoriale Streitigkeiten kaum eine Rolle gespielt, erklärt Oldrich Tuma, der langjährige Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in Prag. Die Trennung in zwei Staaten erfolgte völlig friedlich, weshalb sie heute zuweilen als Beispiel genannt wird für ähnlich gelagerte Konflikte, etwa in Katalonien oder Schottland. Tuma nennt sie eine der grössten Leistungen der tschechoslowakischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Doch gerade angesichts dieses reibungslosen Ablaufs stellt sich die Frage, ob das Ende der Tschechoslowakei wirklich unausweichlich war. Experten haben keine klare Antwort. Es war ein künstliches Gebilde, das 1918 nach dem Zerfall der Donaumonarchie gegründet wurde. Die beiden Völker hatten zuvor über tausend Jahre lang in unterschiedlichen Staaten gelebt. Die Tschechen hatten schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Nationalbewusstsein und ein modernes Bürgertum entwickelt, während die halb so grosse Slowakei agrarisch geprägt war und im ungarischen Königreich unter der Magyarisierungspolitik litt. Der neue Staat Tschechoslowakei sei für die Tschechen quasi eine Ausdehnung der Nation gewesen, in der Slowakei sei dagegen der Wunsch nach einem eigenen Territorium für die entstehende nationale Identität gewachsen, erklärt Tuma. Man fühlte sich von den Tschechen bevormundet und benachteiligt.
Die «slowakische Frage» prägte den Staat. 1968 wurde zwar die Föderation mit zwei Parlamenten in Prag und Bratislava geschaffen, doch faktisch ging weiterhin alle Macht vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei aus. Mit der Wende 1989 war für die Slowakei der Moment gekommen, den Föderalismus einzufordern. Schlagzeilen machte etwa der «Bindestrich-Streit». Slowakische Politiker verlangten, dass der Name der neuen Republik Tschecho-Slowakei laute, um die Eigenständigkeit zum Ausdruck zu bringen.
Mit der Parlamentswahl 1992, in der in beiden Landesteilen sehr gegensätzliche Parteien siegten, wurde die Trennung fast unausweichlich. In Tschechien setzte sich Vaclav Klaus mit seinem wirtschaftsliberalen Reformprogramm durch, in der Slowakei der nationalistische Populist Vladimir Meciar. Mit den Verhandlungen der beiden in der berühmten Villa Tugendhat in Brno sollte der Erhalt der Tschechoslowakei gesichert werden. Doch man fand sich nicht. Am 26. August 1992 verkündete Meciar, die Trennung in zwei Staaten werde auf den 1. Januar 1993 erfolgen.
Ohne Wehmut
Trotz entsprechenden Diskussionen gab es kein Referendum – wohl sehr bewusst. Die schweigende Mehrheit war gegen die Auflösung, wie damalige Umfragen zeigten. «Niemand fragte uns», sagt Katerina. Heute würde das nicht einfach so akzeptiert, meint ihr Sohn Michal, der die Tschechoslowakei nicht mehr bewusst erlebte. Damals, so kurz nach der Wende, sei man es eben nicht gewohnt gewesen, sich zu wehren, wendet seine Mutter ein. Für die Ökonomin ist die Erinnerung an die Tschechoslowakei eng verbunden mit jener an das kommunistische Regime. Es ist ein Grund, warum sie nicht wehmütig zurückblickt.
Überhaupt ist die Zahl jener, die der Konföderation nachtrauern, nur noch klein. Nachdem die Staaten zunächst sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten und der Autokrat Meciar die Slowakei in die Isolation geführt hatte, näherte man sich einander stetig an – nicht nur wegen des EU-Beitritts 2004, der die Grenze wieder verschwinden liess. Heute sind sich die Völker näher als im gemeinsamen Staat. Zwar wird immer wieder beklagt, dass junge Tschechen kaum noch Slowakisch verstünden, obwohl die Sprachen ähnlich sind. Anders als in der kleinen Slowakei, wo viel tschechisches Fernsehen geschaut wird, tschechische Zeitungen erhältlich sind und es viele an tschechische Universitäten zieht, kommt man in Tschechien mit Slowakisch nicht mehr selbstverständlich in Kontakt. Die zweisprachigen Schulbücher gibt es nicht mehr, und der berühmte «slowakische Abend» ist aus dem Fernsehprogramm verschwunden.
Dafür sind die Ressentiments einer gleichberechtigten Partnerschaft gewichen. Tschechen empfinden Slowaken nicht mehr als wirtschaftlichen Bremsklotz, und in der Slowakei fühlt man sich nicht mehr gegängelt von Prag. Eine Rivalität besteht im Sport, doch wenn an einem Turnier Tschechien ausscheidet oder nicht teilnimmt, fiebert man am ehesten mit den Slowaken mit – und umgekehrt.
Manchmal lebt die untergegangene Tschechoslowakei sogar wieder auf. An ausländischen Universitäten etwa bilden Tschechen und Slowaken jeweils ganz selbstverständlich eine Gemeinschaft. Und Anfang 2018 suchen ein tschechischer und ein slowakischer TV-Sender zum fünften Mal den neuen «Superstar» der Tschecho-Slowakei in der gleichnamigen Casting-Show.