NZZ, 23. Juli 2015 / Meret Baumann
Österreich ist mit dem Flüchtlingsstrom völlig überfordert. Über 3000 Asylsuchende leben derzeit in Zelten oder schlafen im Freien. Nun lässt Wien Flüchtlinge von der Slowakei unterbringen.
Die Bilder, die vereinzelt zugelassene Journalisten zuletzt im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen aufgenommen haben, sind erschütternd. In Österreichs grösstem Flüchtlingslager haben derzeit 2000 Asylsuchende kein Bett zur Verfügung. Sie schlafen auf Decken in Garagen, im Freien unter Bäumen oder auf einem Mauervorsprung, unter ihnen Kinder und Babys. Es sind Szenen, die an ein Entwicklungsland erinnern – in einem der reichsten Staaten der Welt. Über 4000 Personen sind derzeit in Traiskirchen untergebracht, konzipiert ist das Zentrum eigentlich für 480.
Unwürdiges Schwarzpeterspiel
Die Lage in der niederösterreichischen Gemeinde ist bereits seit einem Jahr dramatisch. Immer wieder mahnte seither Innenministerin Mikl-Leitner die Bundesländer, ihrer Pflicht zur Bereitstellung von Unterkünften nachzukommen. Ihre auf der Basis der Einwohnerzahl berechnete Quote erfüllen aber ebenfalls seit Monaten nur Wien und, aufgrund von Traiskirchen, Niederösterreich. Unbestritten ist, dass Österreich von der gegenwärtigen Flüchtlingskrise in besonderem Mass betroffen ist. Derzeit werden täglich 300 bis 350 Anträge registriert, im Juni stellten laut der Innenministerin 7500 Personen ein Asylgesuch. In der Schweiz waren es im selben Monat nur gut 3200 . Allerdings sind die Probleme auch hausgemacht: Eine Entspannung scheitert am Widerstand von Bürgermeistern und Landeshauptleuten, an überzogenen behördlichen Auflagen und dem Protest von Anwohnern. Aufgrund des unwürdigen politischen Schwarzpeterspiels leben bereits seit Wochen Hunderte von Asylbewerbern in Zelten, zurzeit über 1200 an fünf Standorten.
Österreichs Regierung ist vorerst mit ihrem Vorhaben gescheitert, innerhalb der EU eine obligatorische Quote zur Verteilung von Flüchtlingen durchzusetzen. Mikl-Leitner baut deshalb verstärkt auf die bilaterale Zusammenarbeit. Darunter fällt etwa die Entsendung österreichischer Polizisten zur Unterstützung Ungarns bei der Sicherung der Grenze zu Serbien sowie eine diese Woche mit der Slowakei unterzeichnete Vereinbarung, laut der 500 Asylsuchende aus Traiskirchen vorübergehend im Nachbarland untergebracht werden.
Das «Memorandum of Understanding» sieht vor, dass Bratislava für die Unterkunft und Verpflegung der Asylbewerber aufkommt, Wien dagegen für die Betreuung und Sicherheit vor Ort. Das Verfahren wird in Österreich abgewickelt – sobald ein Entscheid vorliegt, werden anerkannte Flüchtlinge nach Österreich und Personen ohne Asylgrund in ihre Heimatländer zurückgebracht. Über die Kosten dieser Regelung konnten anlässlich der Unterzeichnung in Wien weder Mikl-Leitner noch ihr slowakischer Amtskollege Kalinak genaue Angaben machen. Die Ministerin betonte aber, für Österreich sei dieses Vorgehen billiger als die Asylsuchenden im Land zu beherbergen.
Ab August werden die Flüchtlinge auf einem Campus der Technischen Universität Bratislava in der Kleinstadt Gabcikovo untergebracht. Kalinak betonte, dass dieser bereits in der Vergangenheit als Unterkunft für Migranten gedient habe. Dennoch regt sich in der Gemeinde Widerstand. Die Einwilligung der Slowakei, Österreich bei der Bewältigung des Flüchtlingszustroms zu unterstützen, erstaunt insofern, als sich das Land auf EU-Ebene strikt gegen eine Quotenlösung wehrt und im Rahmen der freiwilligen Übernahme diese Woche am Sondertreffen in Brüssel nur 200 Plätze zusagte. Kalinak begründete das Abkommen mit der tatkräftigen Hilfe, die sein Land in der Vergangenheit von Österreich erfahren habe.
Kritik am «Asyldumping»
Mikl-Leitner bezeichnete die Unterstützung des Nachbarlands als Zeichen der Solidarität. Nichtregierungsorganisationen beurteilen dies allerdings skeptisch. Der Generalsekretär von Amnesty International Österreich, Heinz Patzelt, äusserte «angewidertes Entsetzen» über das Vorgehen. Man gebe Flüchtlinge damit in einer Art «Gepäckaufbewahrung» ab, sagte er dem ORF-Radio . Kritisiert wurde verbreitet auch das Argument, für Österreich sei diese Lösung billiger. Die Grünen sprachen deshalb von «Asyldumping». Die Asylkoordination, eine Dachorganisation von Flüchtlingshilfswerken, meldete zudem rechtliche Bedenken an.