Die Welt / 29.04.2014, von Daniel Wetzel
Europa leitet Gaslieferungen in die Ukraine um
Erstmals Transport von West nach Ost
Die Ukraine bekommt von der EU-Kommission erstmals substanzielle Hilfe in ihrem Streit mit Russland. Unter der Vermittlung Brüssels unterzeichneten die Pipeline-Betreiber der Ukraine und der Slowakei ein Abkommen über die Lieferung grosser Erdgasmengen aus Westeuropa Richtung Ukraine. EU-Kommissionpräsident José Manuel Barroso sprach bei der Unterzeichnung des Abkommens in der slowakischen Hauptstadt von einem "Durchbruch". An der feierlichen Zeremonie nahm auch der slowakische Premierminister Robert Fico und der Energieminister der Ukraine, Juri Prodan, teil. Das sogenannte Memorandum of Understanding sei "ein erster wichtiger Schritt, um die Gasbezugsquellen der Ukraine zu diversifizieren", sagte Barroso in Bratislava. Das Abkommen erhöhe zudem "die Energiesicherheit in Osteuropa sowie der Europäischen Union insgesamt". Der Vorvertrag zwischen dem staatlichen ukrainischen Pipeline-Betreiber Ukrtransgas und der slowakischen EUstream sieht die kurzfristige Modernisierung der Pipeline-Verbindung "Vojany" zwischen beiden Ländern vor. Dadurch könnten bereits ab Herbst dieses Jahres täglich 22 Millionen Kubikmeter Erdgas von Westen her in die Ukraine fliessen. Pro Jahr ergäbe sich eine signifikante Lieferung von acht Milliarden Kubikmeter aus der Europäischen Union. Die Ukraine übernimmt dabei die entsprechenden Binnenmarktregeln der EU.
Der für Energie zuständige EU-Kommissar Günther Oettinger nannte das Abkommen über eine stärkere Verbindung zwischen den Energiemärkten der EU und der Ukraine einen "Meilenstein". Die Ukraine bekomme "Erdgas aus den EU-Mitgliedsstaaten zu fairen und transparenten Preisen". In diesen Worten Oettingers verbirgt sich auch eine Spitze gegen die Energiepolitik Russlands. Moskau hatte Erdgaslieferungen an die Ukraine in den vergangenen Wochen als Waffe im Streit über die Hoheitsrechte auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim missbraucht. Der russische Lieferant Gazprom hatte der Ukraine alle bisherigen Rabatte gestrichen und berechnet dem Land nun einen Preis, der deutlich über dem westeuropäischen Preisniveau liegt. Gestern erklärte sich die Ukraine nach amtlichen Angaben bereit, seine Gas-Schulden von 2,2 Milliarden Dollar bei Gazprom rasch zu begleichen. Bedingung sei, dass das staatlich kontrollierte Unternehmen weiter den alten Vorzugspreis von 268 Dollar je 1000 Kubikmeter ansetze, erklärte Ministerpräsident Arseni Jazenjuk. Sollte es binnen 30 Tagen keine Vereinbarung darüber geben, werde sein Land den russischen Gas-Monopolisten wegen überhöhter Preise vor dem Stockholmer Schiedsgerichtshof verklagen.
Die Ukraine war bislang überwiegend von russischen Erdgaslieferungen abhängig. Der Essener Energiekonzern RWE war das erste Unternehmen, das auf eigene Faust Erdgas-Lieferungen in Richtung Ukraine auf den Weg gebracht hatte. Dabei war der Konzern allerdings gezwungen, eine relativ kleine Pipeline-Verbindung über Polen zu nutzen. Durch die Intervention Brüssels steht der Ukraine jetzt eine sehr viel grössere Importkapazität zur Verfügung. Die EU-Kommission nannte Norwegen als ein mögliches Lieferland. Die neue Pipeline-Verbindung eröffne der Ukraine aber auch die Möglichkeit, per Tankschiff transportiertes Flüssig-Erdgas auf dem Weltmarkt zu kaufen und über die Hafenterminals der EU zu importieren.
Welcher Lieferant die neue Pipeline-Verbindung nutzt, wird sich in den kommenden Monaten in einem Ausschreibungsverfahren ergeben.
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