>11.04.2012 - Von CHRISTOPH THANEI (Die Presse)
EU-Beitritt hat die Slowakei zerrissen
Die Region Bratislava hat sich zur fünftstärksten Wirtschaftsregion der Europäischen Union entwickelt. Der Osten des Landes wurde allerdings zur Problemregion mit wachsender Arbeitslosigkeit und Abwanderung.
Bratislava. In Hainburg und in der Wiener Mariahilfer Strasse hat man noch die Slowaken in Erinnerung, die sich nach der Wende 1989/90 vor den Schaufenstern drängten. "Nur schauen" wollten sie auf die Waren, von denen sie meinten, das meiste würden sie sich nie im Leben leisten können. Umgekehrt stürmten österreichische Schnäppchenjäger die Geschäfte von "Gratislava", weil hier vor allem Lebensmittel spottbillig waren. Doch nur zwei Jahrzehnte später listet Eurostat die Region Bratislava bereits als fünftstärkste Wirtschaftsregion der Europäischen Union auf. Mit einer Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung von 178 Prozent des EU-Durchschnitts liegt der Raum Bratislava bereits vor Wien (161 Prozent). Und die Einkaufstouristen aus der Slowakei kaufen in Parndorf, Wien und Hainburg längst nicht mehr nur Elektronik und Markenkleidung, sondern decken sich auch mit Lebensmitteln ein. Denn auch die sind für die kaufkräftigen Slowaken bei uns längst günstiger als im teuer gewordenen Bratislava.
Seit dem EU-Beitritt hat sich der Raum Bratislava unheimlich rasch entwickelt. Doch der Erfolg der Hauptstadt ging auch auf Kosten anderer Landesteile. Bratislava zog nicht nur das Geld, sondern auch die Menschen an. Der Osten des Landes verlor den Anschluss. Die Arbeitslosigkeit in der östlichsten Region Východné ist mittlerweile dreimal so hoch wie in der Hauptstadt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt dort bereits bei 34Prozent.
Während Bratislava boomt, herrschen in Randbezirken wie Rimavska Sobota oder Roznava in der Südslowakei Armut und Perspektivlosigkeit. Während des Kommunismus wurden nach der Devise "Jedem Tal seine Fabrik" in den hintersten Winkeln des Landes Arbeitsplätze geschaffen. Doch gleich nach der Wende wurden sie mit ihrer schlechten Verkehrsanbindung alle völlig unwirtschaftlich und gingen rasch verloren. Innerhalb kurzer Zeit verliessen vor allem junge Leute den Osten. Ohne junge und qualifizierte Arbeitskräfte wurden die ohnehin durch unzureichende Infrastruktur benachteiligten Bezirke erst recht für Investoren uninteressant und verstärkten die Konzentration auf Bratislava noch mehr.
Bratislava profitiert von Nachbarn
"Bratislava hat das Glück, inmitten einer europäischen Region der Prosperität zu liegen", sagt Vladimir Balaz vom Prognose-Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. Dank guter Verkehrsanbindung an die ebenfalls wirtschaftlich starken Nachbarstädte Wien und Brünn in Südtschechien sowie Györ in Westungarn schöpfe die slowakische Hauptstadtregion von deren Potenzial gleich mit. Die Ostslowakei sei hingegen von lauter armen Regionen Polens, Ostungarns und der Ukraine umgeben und habe noch dazu eine schlechte Infrastruktur. Dass Bratislava als einzige Grossstadt der Slowakei auch Sitz aller wichtigen Firmenzentralen und Banken des Landes ebenso wie fast aller Ämter ist, verstärke die besondere Situation der Hauptstadt noch, sagt Balaz.
Eine Verminderung der extremen regionalen Unterschiede zwischen Bratislava und dem Rest der Slowakei ist nicht in Sicht: "Dieses Problem ist nicht neu für uns. Trotzdem bietet keine einzige politische Partei bisher eine überzeugende Lösung dafür an", sagte der Politikexperte Pavel Haulik schon vor den Parlamentswahlen am 10.März. Bratislava bleibt daher wohl noch lange die reiche Hauptstadt eines armen Landes.
Ganz so dramatisch wie die Eurostat-Daten vermuten lassen, sei die Realität aber nicht, gibt Maria Valachyova von der Erste-Bank-Tochter Slovenska Sporitelna zu bedenken: "Die Statistiken verfälschen das Bild, weil die gesamte Produktion von landesweit tätigen Firmen jeweils dem Sitz der Zentrale in Bratislava zugerechnet wird." Und auch Vladimir Balaz schränkt ein: "Eurostat rechnet als Region Bratislava nur die Hauptstadt mit wenigen Nachbargemeinden. Damit ist sie nicht wirklich vergleichbar etwa mit der Region Budapest, bei der ein grosses Umland mitgerechnet wird." Auf solchen methodischen Schwächen beruhe es schliesslich auch, dass in den EU-Statistiken lauter Hauptstadtregionen auf den vordersten Plätzen zu finden seien.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2012)