Neue Zürcher Zeitung, 17. Juni 2006
Im Zentrum des slowakischen Wirtschaftswunders
Trnava - kein gutes Pflaster für populistische Regierungsgegner
Die Kleinstadt Trnava, rund 60 Kilometer nordöstlich von Bratislava, ist einer der vielen Beweise dafür, welche Erfolge die Reformarbeit des Kabinetts Dzurinda der Slowakei gebracht hat. Die Gegend blüht, die Arbeitslosigkeit ist drastisch gesunken, und im örtlichen Parlament sitzt kein einziger Vertreter einer populistischen oder linken Partei.
U. Sd. Trnava, 16. Juni
Den Begriff «Neoliberalismus» versteht kaum einer der Männer, die sich in der Fussgängerpassage von Trnava einen Kaffee genehmigen, das Wort «Arbeitslosigkeit» hingegen sehr gut. Mehr als die Hälfte von ihnen war vor zehn Jahren, als das lokale Autowerk Tausende entliess, ohne Arbeit, und heute, wo sie alle wieder beschäftigt sind, mögen sie nicht so recht hinhören, wenn ihnen Zugereiste mit westlichen Salären erklären, dass die Ordnungspolitik von Ministerpräsident Mikulas Dzurinda menschenverachtender Neoliberalismus sei. Sicher, sagt einer grinsend, sie würden alle gerne so viel verdienen wie ihre Kollegen in Wolfsburg oder Rüsselsheim. Aber so blöd, derartige Träume zu politischen Forderungen zu machen, seien sie denn doch nicht: «Wir leben immer noch in der Realität.»
Eine konservative Stadt
Und die sieht in Trnava und Umgebung so fürchterlich nicht aus. Sicher, das neue Werk von Peugeot-Citroën unmittelbar vor den Toren der Stadt ist architektonisch nichts Erhebendes, doch wo gewinnen Autowerke Schönheitspreise? Mit dem schmucken Städtchen, in dem die Zahl der renovierten Prachtsbauten täglich zunimmt, kann es der flache, helle, scheinbar endlos sich dahinziehende Bau nicht aufnehmen. Doch nichts könnte die scherzenden Arbeiter weniger erregen als dieser Makel. Kein einziger von ihnen will für eine linke oder eine populistische Partei stimmen, und für die Parolen des Vorsitzenden der Smer-Partei, Robert Fico, haben sie nur Spott übrig - sarkastischen, auffällig intelligenten Spott. Die Herren stimmen vorwiegend christlichdemokratisch, und damit fügen sie sich nahtlos ein ins soziologische Wählerbild der Stadt, die als alter erzbischöflicher Sitz seit Jahrhunderten konservativ gesinnt ist, wie uns mit mächtiger Stimme der Bürgermeister von Trnava, Ingenieur Stefan Bosnak, erklärt.
Bosnak ist kein Novize, das sieht man ihm an. Dreimal ist der Christlichdemokrat bereits gewählt worden, zum letzten Mal mit 74 Prozent der Stimmen, und - wie soll der das sagen, ohne überheblich zu klingen? - am grossen wirtschaftlichen Erfolg der Region ist er nicht ganz unbeteiligt. Von Anfang an hat er an den Verhandlungen mit Peugeot-Citroën teilgenommen, und als der Vertrag schliesslich unter Dach und Fach war, stand neben der Unterschrift des Wirtschaftsministeriums und des Firmenchefs auch seine, und darauf ist er stolz. Politisch geschadet hat ihm sein Engagement gewiss nicht. Bereits heute bietet das riesige Werk 2200 Menschen Arbeit, und bis 2010, wenn statt der bisherigen 60 000 gut 450 000 Personenwagen des Typs Peugeot 207 produziert werden, sollen es 5300 sein - für eine Kleinstadt wie Trnava mit ihren 67 000 Einwohnern kein Pappenstiel. Vom Autowerk werden zudem, wie üblich in solchen Fällen, zahlreiche kleine Zulieferfirmen profitieren.
Mehr Arbeit, mehr Geld
Nicht, dass Peugeot-Citroën ein Einzelfall wäre. Natürlich sind die Franzosen nun der mit Abstand grösste Arbeitgeber der Region, doch sie koexistieren mit der alten Autofabrik, die bereits im Sozialismus Kleinlastwagen hervorbrachte, und dazu mit zahlreichen weiteren internationalen Firmen wie Sony oder den Koreanern von Samsung, die sich im 25 Kilometer entfernten Galanta niedergelassen haben. Auf die Beschäftigungslage haben sich die grosszügigen Investitionen von Unternehmen aus aller Welt natürlich positiv ausgewirkt.
Die Arbeitslosigkeit, die vor zwölf Jahren noch bei 17 Prozent lag, ist laut Bosnak auf 7,5 bis 8 Prozent zurückgegangen, und mit ihr haben sich auch die sozialen Probleme - Trunksucht, Gewalt gegen Frauen - signifikant reduziert. Der Steuerertrag hingegen ist gestiegen, und da die Bürger auch von ihrem persönlichen Einkommen nicht mehr als 19 Prozent versteuern, bleibt ihnen genügend Geld zum Konsumieren, was in den rege besuchten Geschäften entlang der Flaniermeile im Zentrum mit Genugtuung registriert wird.
Ob Mikulas Dzurinda, der Mann, der von fast allen westlichen und heimischen Beobachtern als Architekt des Booms bezeichnet wird, an der Macht bleiben wird, entscheiden die Stimmbürger am Samstag. Der Ministerpräsident ist heftig umstritten, und von seinen Gegnern wird er wegen seiner rigorosen marktwirtschaftlichen, Leistung und Wettbewerb betonenden Reformen seit Jahren als wüster Kapitalist ohne jegliches soziales Empfinden - als Neoliberaler eben - abgetan, wobei auffallend ist, dass Politiker und Medienschaffende in der Slowakei im Allgemeinen milder urteilen als manche ihrer Kollegen im Westen. Emphatisch wird Dzurinda der Umstand angelastet, dass sich die Einkommensschere in den letzten Jahren geöffnet habe.
Der geduldige, in der Öffentlichkeit geschickt und leger auftretende Dzurinda bestreitet nicht, dass viele Reiche reicher geworden sind, pocht aber darauf, dass es den Armen, selbst den Ärmsten, heute besser gehe als zu Beginn seiner Amtszeit. Die wenigsten Soziologen bestreiten das.
Vollbrachter Quantensprung
Trotz mannigfachen und gut publizierten Klagen ist das Wissen darum, dass irgendetwas besser geworden ist in diesem Land, wohl weiter verbreitet, als man denkt. Die die Sonne geniessenden Arbeiter von Trnava jedenfalls halten den Umstand, dass man heute guten Espresso schlürfen kann und im Geschäft eine sehr viel grössere Auswahl findet als früher, allesamt für eine dezidiert «westliche» und keine sozialistische Entwicklung, und sie wissen, dass auch ihre Arbeitskollegen im fernen Kosice nicht anders denken. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass die Smer-Partei seit einiger Zeit energisch darauf pocht, dass sie weder eine wirtschafts- noch eine europafeindliche Partei sei, dass sie keinesfalls alle Errungenschaften Dzurindas rückgängig machen wolle und lediglich daran denke, die Reichen - der Begriff wurde nicht näher definiert - etwas mehr zu schröpfen als bisher.
Für den Soziologen Jan Baranek, Leiter des Umfrageinstituts Polis, ist die in Umfragen favorisierte Smer-Partei denn auch keine wirklich linke, sozialdemokratisch ausgerichtete Gruppierung - eine solche fehlt in der Slowakei weitgehend. In der Klientel Ficos finden sich nicht nur Arbeiter und Angestellte, sondern auch erstaunlich viele Unternehmer sowie Studenten, die mangels einer linken Alternative die Smer wählen. Zahlreiche Parteigänger Ficos sind zudem auf der Suche nach unverfälschtem Populismus aus der milder und klüger gewordenen Bewegung für eine Demokratische Slowakei (HZDS) des einstigen Regierungschefs Meciar zugewandert.
Egal, ob sich in Bratislava schliesslich eine linkspopulistische oder eine bürgerlich-liberale Mehrheitskoalition etablieren wird: Ein Rückfall in die finsteren Zeiten Meciars ist wohl nicht zu fürchten. Selbst eine dezidiert linke Truppe würde wohl gar nicht erst versuchen, das gesamte Reformwerk Dzurindas umzustürzen - zu schwerwiegend wären die Folgen für den Arbeitsmarkt, für die Konjunktur und den Investitionsplatz Slowakei. Auch die Normen der EU werden mässigend wirken. Die Zeit, in der es als Tugend galt, durch Sozialausgaben riesige Budgetdefizite anzuhäufen, ist vorbei, und irgendwann einmal werden selbst Paris und Berlin die fiskalischen Sparleistungen, die sie den kleinen EU-Newcomern abverlangen, vorleben müssen.
Es ist dieser Tage in Ostmitteleuropa ein interessantes Phänomen zu beobachten: Die internationalen Anleger lassen sich auch von für sie bedauerlichen Vorgängen nicht mehr vertreiben. Selbst auf den Einzug der Populisten in die polnische Regierung hat der Markt gelassen reagiert. Es ist zu vermuten, dass auch ein Sieg der Populisten in Bratislava an diesem Trend nichts ändern würde. Die Slowakei hat den Quantensprung hinter sich. Sie ist ein normales europäisches Land geworden, wirtschaftlich und gesellschaftlich aufs Engste mit dem Westen verwoben, und drum wird sie auch etwas linkspopulistischen Aufruhr locker wegstecken.