11.09.2008 | (Die Presse - Schaufenster)
Ein legendärer Zug fährt los
Von Martin Amanshauser
Ein legendärer Zug fährt los, im kleinsten
Hochgebirge der Welt – gibt es ihn wirklich?
Es gibt Gründe,
in die Hohe Tatra zu fahren. Die meisten hängen mit Wintersport
zusammen, im Sommer eventuell mit Wandersport. Eine spezielle
Art von Hohe-Tatra-Besuchern erforscht die Region jedoch,
um eines der letzten großen Eisenbahngeheimnisse Mitteleuropas
zu lüften. Für diese Menschen, zu denen ich mich
zähle, spitzt sich alles auf eine Frage zu: Existiert
der legendäre Autoreisezug zwischen Poprad und Prag tatsächlich?
Es gibt durchaus seriöse Hinweise auf seine Existenz:
Meist handelt es sich um Aussagen von „Augenzeugen“,
die auf Originalsichtungen des Autoreisezugs zurückzuführen
sein sollen. In der Literatur existieren mehrere „Originalberichte“
vermeintlicher oder tatsächlicher Reisender. Der Ablauf
scheint immer identisch zu sein: Zwischen 18 und 20 Uhr verfrachtet
man seinen PKW auf einen eigens vorgesehenen Waggon, während
man selbst, nach Bezahlung eines geringen Obulus, ab 21 Uhr
komfortable Liegeabteile bezieht und sodann über Nacht
bei solider, ex-realsozialistischer Verpflegung die 600 km
zur tschechischen Hauptstadt Prag zurücklegt.
Soweit die Legende – doch fehlen bisher konkrete Hinweise
auf die Authentizität der Berichte. Die Hotline der Slowakischen
Staatsbahnen bestreitet die Existenz des Zugs keineswegs,
gleichwohl ist es unmöglich, im Internet, in Bratislava
oder sonstwo Reservierungen vorzunehmen. Nur im Städtchen
Poprad, und zwar nur am Bahnschalter, ist es möglich,
den Autoreisezug zu buchen.
Die Anreise nach Poprad erfolgt idealerweise über Strbske
Pleso, einen Ort im Herzen der Hohen Tatra, der 1970 die Nordische
Schi-WM austrug. Strbske Pleso verschafft Individualtouristen
ihr Abenteuer: Weder im mondänen „Hotel Patria“
noch im proletarischen „Hotel Toliar“ ist ein
Zimmer frei. Auch Frau Pfisterova an der Rezeption des „Hotel
FIS“ hat zunächst keines, doch erinnert sie sich
– ermutigt von penetranter Nachfrage – an die
Bungalows am Rand der Schanzenanlage: „Bungalow T“
sei eventuell frei.
Am Morgen empfiehlt sich ein Spaziergang rund um den wirklichen
„Strbske Pleso“, der auf Deutsch „Tschirmer
See“ heißt, bis in den Mai zugefroren ist, und
in dem eine merkwürdige Maränenrasse lebt. Aber
nicht zu lange in der Tatra bleiben, nicht zu lange den Krivan
(heiligen Berg der Slowakei, Abbild kommt auf die Centmünze)
betrachten, denn Poprad wartet!
Im Bahnhofsgebäude der nordslowakischen Stadt wird das
Vorhandensein des legendä-ren Autoreisezugs bestätigt,
doch gibt es immer gerade „für heute, morgen und
übermorgen“ absolut keine Tickets mehr. Es ist
eine Frage von Zeit und Geduld.
Eines Tages werden – denke ich – Menschen kommen,
die sich drei oder vier Tage in Poprad einquartieren. Diesen
Nachgeborenen wird es gelingen, für sich und ihre PKW
ein Ticket auf dem Autoreisezug zu ergattern. Bis dahin sind
wir leider auf Gerüchte angewiesen, auf unsichere Berichte,
auf vage Vermutungen.