Spiegel Online, 24. Juli 2008
Die letzten Flösser vom Dunajec
Von Oliver Lück
Der Fluss ist ihr Leben: An der Grenze zwischen
Polen und der Slowakei tauchen Flößer
seit Generationen ihre langen Stäbe ins
Wasser. Früher transportierten sie Holz
und Lebensmittel über den Dunajec, heute
Touristen. Doch die Fahrgäste werden weniger.
An diesem Vormittag hängen die Wolken wie
schmutzige Laken am Himmel. Sie haben dunkle
Bäuche, die die bewaldeten Hügel,
die Wipfel der Kiefern verschlucken. Maciej
Kordeczka sitzt am Fluss und beobachtet die
Oberfläche des Wassers. Dicke Regentropfen
lassen kleine Krater entstehen. Er kennt den
DunaU?jec gut, er hat hier schwimmen gelernt.
"Wo auch sonst", sagt der 25-Jährige,
"es gibt hier die Berge und den Fluss."
Und man könne sich entscheiden: Werde ich
Hirte auf den Bergwiesen, werde ich Flößer
auf dem Dunajec oder verlasse ich die Heimat.
Maciej Kordeczka hat sich für den Fluss
entschieden, wie schon sein Großvater,
sein Vater und sein Onkel vor ihm. Seit Generationen
sind die Kordeczkas Flößer am Dunajec, der versteckt im hintersten Winkel des Pieniny
liegt, einem Gebirgsrücken im Südosten
Polens.
Ist die Sicht gut, sind von hier die schneebedeckten
Gipfel der Hohen Tatra bei Zakopane zu sehen,
die bis auf 2500 Meter hinauf ragen. Irgendwo
da oben entspringt der Dunajec aus zwei Quellen,
dem Weißen und dem Schwarzen Dunajec,
die sich später vereinigen. Wie eine Nabelschnur
windet sich der Fluss hinunter bis in den Pieniny-Nationalpark,
wo er die natürliche Grenze zwischen Polen
und der Slowakei bildet. "Ohne den Fluss
wäre hier gar nichts", sagt Maciej
Kordeczka, "er ist unsere Verbindung zur
Außenwelt."
NU?ur noch zum Vergnügen
Seit Anfang des 17. Jahrhunderts wurden Holz,
Lebensmittel und andere Waren den Strom hinunter
geflößt und in nur zwei Wochen auf
der Weichsel durch ganz Polen bis zur Ostsee
bei Danzig transportiert. Die immer günstigeren
Transportmöglichkeiten auf Straße
und Schiene bedeuteten jedoch das Ende der Berufsflößerei.
Lange schon fahren die Flöße nur
noch zum Vergnügen. Eine Fahrt auf dem
Dunajec gilt auf polnischer wie auf slowakischer
A?Seite als Attraktion für täglich Hunderte
Touristen.
Heute sind nur wenige Besucher am Floßableger
im polnischen Katy, einem kleinen Dorf, das
gerade mal acht Häuser zählt. 15 Grad,
Regen - kein Tag für eine Vergnügungsfahrt.
Insgesamt 500 Männer sind in der Vereinigung
der Pieniny-Flößer organisiert, rund
200 warten auf Kundschaft, sitzen in kleinen
Gruppen zusammen, rauchen, spielen Karten, trinken
Bier. "Obwohl das verboten ist", sagt
Maciej Kordeczka, "ein Bier und du fährst
nicht mehr - aber an Tagen wie heute."
Andere stehen einfach nur da, haben ihre Hände
tief in den Hosentaschen vergraben und warten
wortlos. Sie alle tragen die schwarzen, mit
Muscheln dekorierten Filzhüte und die blauen,
bunt mit Blumen bestickten Westen. Es ist ein
kräftiges, es ist ein stolzes Blau. Es
ist die Tracht der Goralen, des Bergvolkes dieser
Region.
Am Büro der Flößervereinigung
hat sich eine Schlange gebildet. Es ist Monatsanfang,
die Männer wollen ihren Lohn. Jeder ist
sein eigener Unternehmer, bekommt ein Drittel
der Einnahmen jeder Fahrt, rund 35 EuA?ro. "Durch
zwei", korrigiert Maciej Kordeczka, allein
könne man ein Floß nicht steuern.
Er fährt gemeinsam mit seinem Vater, seit
sieben Jahren nun schon. Drei Jahre ging er
bei ihm in die Lehre, dann legte er die Prüfung
zum Flößer ab.
Hut und Weste sind Vorschrift
Das Handwerk darf nur innerhalb der Familie
weitergegeben werden. "Man muss ein Gorale
sein", sagt Kordeczka, "das war immer
schon so, und wir bewahren unsere Tradition.
Es gibt strenge Regeln." Die Haare etwa
müssten akkurat geschnitten sein, Vollbart
und SonnenbrU?ille seien verboten, Hut und Weste
bei jeder Fahrt vorgeschrieben. Knapp drei Stunden
dauert es die 18 Kilometer flussabwärts
von Katy nach Szczawnica. "Manchmal kürzer",
sagt der Vater, Jan Kordeczka, "wie der
Fluss es will." An guten Tagen fahren sie
viermal. An Tagen wie heute einmal, vielleicht
keinmal. "Dann gehen wir nach Hause, ohne
einen Zloty in der Tasche", ruft ein Flößer
mit gewaltigem Bauch. "Und du musst beim
Wirt wieder anschreiben", ein anderer.
Alle lachen. Und warten.
Es ist eine klar umrissene Welt: Floß
bauen, warten, fahren, Floß auseinanderbauen
und auf den Lkw laden, zurück zum Ablegeplatz,
Floß bauen, warten - der ewige Kreislauf
eines Flößerlebens. Die Zahl der
Touristen gibt den Pulsschlag vor. Doch Jahr
für Jahr klettern immer weniger aus den
Reisebussen oben am Parkplatz. "Wir haben
schon bessere Zeiten gesehen", sagt Janczy
Szczepan, mit 65 Jahren der älteste Flößer.
Im letzten Jahr sei er nur 90-mal den Dunajec
runter, wie solle er so das Geld für das
ganze Jahr verdienen? Von Anfang Mai bis Ende
Oktober dauert die Saison, doch längst
beschränkt sich das lukrative Geschäft
auf die drei Sommermonate. Man wisse auch nicht,
woran das liege, "eigentlich hat sich doch
nichts verändert", rätselt Janczy
Szczepan, vielleicht sei aber genau das das
Problem. "Alles läuft noch wie vor
20 Jahren", sagt er. Vielleicht müsse
man auch mal Werbung machen, doch dafür
fehle angeblich das Geld. "Zurzeit sind
wir einfach zu viele Flößer für
zu wenige Touristen." Viele habeA?n sich
daher eine zweite Arbeit suchen müssen.
Maciej Kordeczka arbeitet als Fitnesstrainer,
seine Eltern vermieten jetzt ein Zimmer an Feriengäste.
Lotse durch Untiefen und Strudel
Aus einem Lautsprecher scheppert eine gelangweilte
Frauenstimme: "Die 408 bitte" - das
Floß der Kordeczkas. Jedes trägt
eine Nummer, eine Liste legt die Startplätze
fest. Die Kordeczkas stehen heute ganz oben
auf der Liste, haben ihr Floß bereits
zuammengebaut und am Ufer vertäut.
Bis in die sechziger Jahre waren die Flöße
noch ausgehöhlte Baumstämme, die mit
Seilen zusammengehalten wurden. Heute sind es
fünf Pontons, aus Fichtenbrettern zusammengenagelt,
die in 20 Minuten verschnürt sind. Zehn
Fahrgäste haben sich gefunden, zeigen ihre
Tickets. Kraftvoll stößt Jan Kordeczka
das Floß mit der vier Meter langen Stake
ab. Geräuschlos nimmt der Fluss es mit.
Konzentriert beobachten die Männer die
Bewegungen des Wassers. "Auch wenn es nicht
so aussieht, der Fluss ist gefährlich",
sagt Maciej Kordeczka.
Oft sei er von Touristen gefragtA? worden, ob
sie nicht auch mal lenken dürften, so schwer
könne das doch nicht sein. Jedes Mal habe
er erklärt, dass es Untiefen, Sandbänke,
versteckte Felsen und Strudel gebe, die das
Floß blitzartig wenden könnten. Manchmal
spielt der Wind ihnen Streiche, hat er eben
noch stetig ins Gesicht geblasen, fegt er im
nächsten Moment hinterrücks gegen
das Heck, dreht urplötzlich auf die Seite.
Und auch das Wetter könne augenblicklich
umschlagen. Oft legten sie bei wolkenlosem Himmel
ab und wurden drei Kurven weiter von einem Gewitter
überrascht. In den 35 Jahren, die Jan KordeU?czka
Touristen flussabwärts bringt, sei aber
noch nie etwas passiert, sagt sein Sohn.
"Wer viel redet, redet viel Unsinn"
Jan Kordeczka selber redet nicht viel, nur das
Nötigste. "Rechtes Ufer Slowakei,
linkes Ufer Polen", sagt der 56-Jährige
und deutet mit der Hand ans rechte, dann ans
linke Ufer. "Wer viel redet, redet viel
Unsinn", sagt er, "der Fluss ist mein
Leben, wie für viele hier. So ist das halt."
Ein slowakisches Floß gleitet heran und
voA?rbei. Vielen polnischen Flößern
sind die Kollegen vom anderen Ufer ein Dorn
im Auge, eine unnötige Konkurrenz. "Wir
grüßen uns, mehr nicht", sagt
Maciej Kordeczka. "Die da drüben",
wie er sie nennt, "wollen immer schneller
sein, nehmen viel zu viele Personen mit, dabei
sind sie doch bloß neidisch, dass der
Fluss die Biege nach Polen macht und wir fünf
Kilometer weiter flößen können."
Der spektakulärste Abschnitt aber liegt
im internationalen Gewässer, sowohl Polen
als auch Slowaken haben im sogenannten Durchbruch
U? des Dunajec Floßrecht. Hier zwängt
sich der Fluss auf acht Kilometern zwischen
steil aufragenden Felswänden, an manchen
Stellen bis zu fünfhundert Meter hoch.
Sind Vater und Sohn gut gelaunt, singen sie
hier die alten Lieder der Goralen, die von den
großen Taten der Volkshelden erzählen.
Und die grauen Wände werfen ihre Stimmen
zurück, ein einzigartiger Kanon mit der
Natur entsteht. Wieder am Ufer. Floß auseinanderbauen
und zurück nach Katy.
Im Lkw erzählt Maciej Kordeczka von seiner
zwA?eijährigen Tochter und dass sie die Tradition
der Familie leider nicht fortführen könne,
"man muss Kraft haben als Flößer",
sagt er. In der fast 300-jährigen Geschichte
der Dunajec-Flößer habe es noch nie
eine Frau gegeben. Wenn er mal einen Sohn haben
sollte, werde sich dieser aber gewiss auch für
den Fluss entscheiden, "ich wäre stolz
auf ihn." Und sein Vater? Ist der auch
stolz auf seinen Sohn? Maciej Kordeczka überlegt.
"Ich weiß es nicht, ich habe ihn
nie gefragt", sagt er, "ich glaube,
ja." Jan Kordeczka sagt nichts, wie so
oft, aber er nickt.